Die Legenden der Vaeter
von ihm mit der Bitte, den genauen Termin für einen Besuch doch per Telegramm anzukündigen.
Ostern und die Sommerferien verstrichen. Erst im Herbst desselben Jahres machte mein Vater sich auf den Weg. Er war jetzt Anfang dreißig, ein Studienrat und zweifacher Vater, |214| doch genau wie zwanzig Jahre zuvor, als er von zu Hause ausgerissen war, um mit dem Fahrrad in Richtung Polen aufzubrechen, traf er die Vorbereitungen für seine Reise wieder in aller Heimlichkeit.
Mein Vater hatte Marianne gegenüber nie erwähnt, dass Józef Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er verschwieg ihr auch jetzt das wahre Ziel seiner Reise. Offiziell würde er zusammen mit meiner Mutter in die DDR fahren, um eine Brieffreundin von ihr zu besuchen, mit der sie sich seit der Schulzeit schrieb. Das war es auch, was er mir erzählte, bevor er mich und meine Schwester zu meinen anderen Großeltern brachte, den Eltern meiner Mutter. Ich war sieben Jahre alt, und selbst wenn ich gewusst hätte, dass es von dem Ort in Sachsen, in dem die Brieffreundin meiner Mutter lebte, nicht weit war nach Görlitz und bis zur polnischen Grenze, hätte ich den eigentlichen Grund der Reise meiner Eltern wohl nicht erraten. Für mich hatte Józef nur in den Geschichten meines Vaters existiert. Dass es ihn wirklich geben könnte, dieser Gedanke war mir damals nicht gekommen.
An einem Samstagmorgen brachen meine Eltern auf, zunächst in Richtung DDR. Es war der 28. Oktober 1978, nicht einmal zwei Wochen nachdem der polnische Kardinal Karol Wojtyła in Rom zum Papst gewählt worden war. Das Land befand sich damals in einer schweren Krise. Auf der Fahrt hörten meine Eltern im Autoradio Berichte über die Spannungen zwischen dem sozialistischen Staat und der katholischen Kirche, über die katastrophale wirtschaftliche Situation in Polen und die schlechte Versorgungslage. Mein Vater hörte aufmerksam zu, als würden sich zwischen den Meldungen Informationen über Józef Koźlik verbergen.
|215| Mein Vater hatte seit seiner Schulzeit jeden Zeitungsartikel über Polen verschlungen, der ihm in die Hände fiel, und in den überfüllten Regalen seines Arbeitszimmers reihten sich Bücher über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aneinander. Er hatte in den späten sechziger Jahren mit dem Studium begonnen, als eine ganze Generation von Studenten in der Bundesrepublik die Forderung erhoben hatte, das Schweigen der Generation ihrer Väter über die Zeit des Nationalsozialismus zu brechen. Mein Vater hatte über den Hitler-Stalin-Pakt gelesen, über den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz, den Deutschland als Vorwand für den Angriff auf Polen genommen hatte, über die Massaker der Einsatzkommandos im besetzten Polen und über die Gaskammern und Verbrennungsöfen in Auschwitz-Birkenau, Sobibór und Treblinka.
Im Dezember 1970 hatte er in der Tagesschau gesehen, wie Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem Staatsbesuch in Polen vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto auf die Knie gefallen war, und er hatte im Anschluss an die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im »Spiegel«, in der »Zeit« und in der »Frankfurter Rundschau« die Diskussionen um die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition verfolgt. Er wusste alles über Polen, was man in den siebziger Jahren über dieses Land wissen konnte. Aber er wusste kaum etwas über seinen Vater, jenen Mann, den der Zweite Weltkrieg für ein paar Jahre aus seinem Heimatland nach Deutschland gebracht hatte und der ihm trotz der Briefe, die sie gewechselt hatten, nicht nähergekommen war.
In unserer Küche stand ein altes, dunkelgrünes Kofferradio. Mein Vater hatte es sich als Schüler gekauft, nachdem |216| er in den Sommerferien vier Wochen in der Ziegelei in Fürstenau gearbeitet hatte. Er hörte damit die Nachrichtensendungen, während er das Abendessen richtete. Er schnitt Brot auf, holte Wurst, Schinken und Käse aus dem Kühlschrank und deckte den Tisch, und nebenbei lauschte er den verzerrten Stimmen der Korrespondenten, die über verrauschte Telefonleitungen aus Asien, Amerika und Afrika zugeschaltet wurden. Als ich in Józefs Briefen auf die Namen der Politiker stieß, die sich mir damals eingeprägt hatten, Brandt und Breshnew, Carter, Sadat und Ayatollah Khomeini, war es so, als ob mich ein Echo aus weiter Ferne erreichte, aus jener verlorenen Epoche der siebziger Jahre, die mir im Blick zurück genauso unwirklich vorkam wie die Geschichten aus der Kindheit meines
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