Die Legenden der Vaeter
und stumpfe Stechbeitel. Dosen mit Schrauben und Nägeln standen neben Holzkästen mit rostigen Scharnieren und mehreren Rollen grobkörnigem Schleifpapier aus dem Maschinensaal in Fürstenau. An einem Haken an der Wand hing sogar einer der grauen Kittel, die Arnold bei der Arbeit getragen hatte. Die Ärmel waren viel zu kurz, als dass er meinem Vater hätte passen können, aber er hatte ihn trotzdem nicht weggeworfen.
Mein Vater hatte das Haus, in dem er mit meiner Mutter lebte, in ein Museum verwandelt, das an eine versunkene Welt erinnern sollte, von der niemand wusste, wie sie wirklich einmal ausgesehen hatte. Es gab kein Archiv, keine Akten, in denen die Wahrheit über die Kindheit meines Vaters in Fürstenau verzeichnet war, nur seine windschiefen und bis zuletzt widersprüchlichen Erinnerungen und ein paar sperrige Möbel, angelaufenes Silber und eine Handvoll alter Schrauben und Nägel.
Die Zigarrenkiste mit den Briefen hatte er nicht wieder in |211| der Schublade seines Schreibtischs verstaut, sondern in den kleinen Safe im Abstellraum eingeschlossen, in dem er neuerdings wichtige Dokumente und Unterlagen aufbewahrte. Den Ausdruck mit Józefs Lebenslauf hatte er überflogen, während wir Kaffee tranken, und dann wortlos beiseitegelegt. Ich hatte meinem Vater in den letzten Jahren immer wieder von den Ergebnissen meiner Nachforschungen berichtet, und ich war jedes Mal enttäuscht und oft wütend darüber gewesen, dass er sich nie dazu äußerte, keine Fragen stellte, nichts. Stattdessen landete er zuletzt immer wieder bei den alten Geschichten aus Fürstenau, bei vergangenen Sommertagen, die von Schmerz, Furcht und stillem Glück durchzogen waren. Es schien meinen Vater nicht zu interessieren, dass Józef weder in Monte Cassino noch in Arnheim gewesen war, dass er kein Held und waghalsiger Deserteur war, sondern ein Wehrmachtsoldat, der in britische Kriegsgefangenschaft geraten war und nur durch Zufall zur polnischen Exilarmee gefunden hatte.
Und doch hatte sich etwas verändert. In den späten Nachmittagsstunden, als die letzten warmen Sonnenstrahlen durch die Fenster ins Wohnzimmer fielen und die Oberflächen der dunklen Eichenmöbel sanft zu schimmern begannen, ahnte ich, dass Józefs Geschichte nie mir gehören würde. Es war beinahe ein Gefühl der Erleichterung. Mein Vater saß neben mir auf dem Sofa, inmitten der Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit in Fürstenau, und ich war wieder an dem Punkt angekommen, an dem alles begonnen hatte. Ich schaltete das Aufnahmegerät ein, und dann hörte ich ihm zu, wie er mir mit seiner tiefen, mit dem Alter leicht rau gewordenen Stimme den Schluss der Gutenachtgeschichte erzählte, die er vor über dreißig Jahren an |212| dem Abend nach dem Besuch bei meinen Großeltern begonnen hatte.
Ich hatte versucht, diese Geschichte selbst zu Ende zu bringen. Doch nun musste ich erkennen, dass meine Bemühungen, die Figur, die den Kindheitserinnerungen meines Vaters entsprungen war, in die Wirklichkeit zu holen, unnötig gewesen waren. Józef Koźlik war bereits im Jahre 1978 im ehemaligen Grenzland zwischen Deutschland und Polen für einige Tage aus dem Dickicht der Geschichten hervorgetreten.
Das war es, was mein Vater mir jetzt erzählte. Und er erzählte mir auch, wie er Józef anschließend für immer verschwinden ließ, so als hätte es ihn nie gegeben.
|213| A ls ich den Brief, den mein Vater 1973 an Józef Koźlik geschrieben hatte, zum ersten Mal las, hätte ich den Satz inmitten der kühlen Formulierungen beinahe übersehen. Ganz am Schluss, nachdem mein Vater über den Wohlstand geschrieben hatte, der in Fürstenau Einzug gehalten hatte, hatte er im gleichen distanzierten Stil hinzugefügt: »Zu den Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland ließe sich noch viel sagen, aber dazu würde dieser Brief nicht ausreichen. Darüber könnte man auch bei einer anderen Gelegenheit ausführlicher reden.« Mein Vater hatte an dieser Stelle die Möglichkeit eines Treffens angedeutet.
Józef ging nicht darauf ein, vielleicht hatte er den umständlich formulierten Satz einfach überlesen. Es dauerte fünf Jahre, bis mein Vater auf einer Karte, die er zu Ostern nach Steblau geschickt hatte, das Thema offenbar noch einmal zur Sprache brachte. Diesmal kam umgehend eine Antwort. »Ich freue mich sehr, dass Du mich noch in diesem Jahr besuchen willst«, schrieb Józef am 10. April 1978 an meinen Vater. Zehn Tage später kam bereits ein zweiter, euphorischer Brief
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