Die Legenden der Vaeter
Informationen aus dem eigenen Land traute er nicht. »In unserer Zeitung stimmt bloß das Datum und im Radio die Uhrzeit«, schrieb er, »alles andere ist Propaganda.« Für die politischen Vorlieben meines Vaters hatte Józef nichts übrig. Wenn man in einem Land im Osten Europas lebe, hinter Grenzen, die mit Stacheldraht, elektrischen Zäunen und Minen gesichert seien, schrieb Józef, dann könne man sich kaum vorstellen, dass der Sozialismus jemals ein menschliches Antlitz tragen würde.
Polen war damals bereits auf dem Weg in die Krise. Der Staat hatte hohe Kredite aufgenommen, um die Wirtschaft anzukurbeln, zuerst in Ländern des Ostblocks, dann im Westen. Der Aufschwung blieb aus, und als mit der Ölkrise überall in der Welt die Kosten für Kredite explodierten, geriet Polen in eine Schuldenfalle. In seinen Briefen beschrieb Józef detailliert die Auswirkungen der sozialistischen Planwirtschaft, die mit dem Geld aus dem Westen gestützt wurde, auf die Bevölkerung. Die Lebensmittelpreise stiegen von Tag zu Tag, Butter und Fleisch waren kaum noch zu bezahlen, Zucker wurde rationiert, genau wie Kohle, andere Waren waren gar nicht mehr zu bekommen, und vor den Geschäften bildeten sich endlose Schlangen. »Das ist die kommunistische Wirtschaft«, schrieb Józef im Januar 1977 an meinen Vater, einige Monate nachdem das Arbeiterkomitee gegründet worden war, aus dem später die
Solidarność
hervorgehen sollte. Damals war es in Warschau, in Radom und vielen anderen polnischen Städten zu Streiks gekommen, die Polizei und Armee mit Gewalt beendet hatten: »Der Mensch wird hier wie ein Tier behandelt.«
Józef wusste, dass ihn seine offene Kritik an den Zuständen in Polen in Schwierigkeiten bringen konnte. Wenn |220| er sich erkundigte, ob ein bestimmter Brief auch angekommen sei, dann nicht nur, weil mein Vater ihn wieder einmal viel zu lange auf eine Antwort hatte warten lassen, sondern weil er fürchtete, dass unliebsame Postsendungen ins Ausland von den polnischen Zensurbehörden aussortiert würden. Einen der Umschläge hatte er Alois Gambusch mitgegeben, seinem Jugendfreund aus Steblau. Er war im Frühjahr 1978 zum ersten Mal nach dem Krieg wieder in Polen gewesen, um seine jüngere Schwester und seinen Bruder zu besuchen, die Einzigen aus seiner Familie, die den Krieg überlebt hatten. Andere Briefe schickte Józef unter dem falschen Namen ab, den er gegen Ende des Krieges als Angehöriger der polnischen Exilarmee bekommen hatte. Józef Chmielewski stand dann auf der Rückseite des Umschlags, mit einer falschen Adresse in Tarnowitz, und die Briefe schlossen mit dem Satz: »Meine richtige Anschrift ist Dir bekannt!«
Das Gefängnis in Breslau habe er 1957 als kranker Mann verlassen, hatte Józef in einem seiner ersten Briefe an meinen Vater geschrieben. Seitdem sei er vierzehn Mal im Krankenhaus gewesen, um Magengeschwüre behandeln zu lassen, Rheuma und eine Leberzirrhose. »Siehst Du«, schrieb er an meinen Vater, »auch ich gehöre zu den Sklaven in ›Archipel Gulag‹.« Józef musste aus dem Radio von Alexander Solschenizyns Werk über die stalinistischen Lager erfahren haben. Nachdem im Januar 1974 die ersten Übersetzungen erschienen waren, berichteten
Radio Free Europe
und andere westliche Sender, die auch in Polen gehört wurden, über die darin dokumentierten Verbrechen. Dass es wohl auch der Alkohol war, der seiner Gesundheit zu schaffen machte, erwähnte Józef nicht.
|221| Arbeit hatte er in den siebziger Jahren nicht mehr. Er hatte sich immer wieder krankschreiben lassen müssen und zuletzt eine Invalidenrente beantragt. Anfang 1976 war er noch einmal für ein paar Stunden in der Woche in Lublinitz in die Textilfabrik gegangen, um in der Baukolonne des Unternehmens auszuhelfen, gab die Arbeit allerdings kurz darauf aus gesundheitlichen Gründen wieder auf. Unter einen kurzen Ostergruß, den er 1976 an meinen Vater schickte, setzte er als PS: »Liege wieder im Krankenhaus.«
Józef blieb Rentner. Zuletzt lagen immer größere Abstände zwischen den Briefen, und die kurzen persönlichen Anmerkungen, die er zwischen seinen bitteren politischen Betrachtungen einstreute, fügten sich zu dem traurigen Bild eines alten Junggesellen, der die meiste Zeit des Tages in der Küche seiner Mutter saß und an seinen Sohn schrieb, den er vor fast dreißig Jahren in Deutschland zurückgelassen hatte.
Sein letzter Brief, der meinen Vater nur wenige Tage vor der Abfahrt erreicht hatte, lag jetzt im
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