Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
von Menschen geschaffenen Welt umgeben, den Gebäuden, den Büchern und Maschinen, und sie hat einen geformt. Das ist jetzt alles fort, ausgelöscht, bis auf das, was hier drin ist.« Er klopfte sich an die Schläfe, sanft, um sein arthritisches Handgelenk zu schonen. »Wir haben es nicht bloß mit einer Flut zu tun, sondern mit einer gewaltigen kollektiven Amnesie. Tja, da kann man nichts machen. Sie müssen lernen. Aber sie wollen nicht lernen. Sie wollen nicht zuhören. Sie wollen sich nicht an die Arbeitspläne halten, die wir für sie aufstellen …«
Lily hatte diese Argumente schon öfter gehört, und nicht nur von Lammockson. Die Leute beklagten sich häufiger, dass die Kinder den Wanderpredigern und Imamen und Rabbis, die zwischen den Floßgemeinschaften umherzogen, keine Beachtung schenken wollten. Nachdem sie Lammocksons Macher-Vision der Welt ablehnten, suchten sie sich auch ihre eigenen Götter, wie es schien, irgendwo in den endlosen Wassern, die ihre Welt beherrschten.
»Jedenfalls ist die Flut nur eine weitere klimatische Konvulsion in einer langen Reihe«, nuschelte Lammockson. »Vor fünf Millionen Jahren hat es in Afrika eine große Abkühlung gegeben, und der Wald hat sich gelichtet. Unsere Vorväter haben sich abgespalten und sich allmählich ans offene Land angepasst. Die Schimpansen sind in den Waldstücken geblieben, und wissen Sie was, die waren immer noch dort, als das Scheiß-Wasser gestiegen ist und sie ertränkt hat. Die Erde hat uns geboren und uns dann mit harter, liebevoller
Hand geformt. Dieses neue Wasserzeitalter, das Hydrozän, ist nur eine weitere grobe Gussform, und wir werden es überstehen, klüger und stärker denn je. Wir sind die Kinder des Hydrozäns. Ja, das gefällt mir …« Er sah sich um, als suchte er jemanden, der die Phrase für ihn notierte. »Verdammte Schimpansen, ich meine, Kinder, die schwimmen bloß …« Seine Augen schlossen sich, als schliefe er beim Reden ein, und er schaukelte steif hin und her, dreiundsiebzig Jahre alt.
»Vielleicht sollten Sie zu Bett gehen, Nathan.«
»Die schwimmen bloß …«
Am Himmel flammte ein Licht auf. Lily blickte in dem Glauben nach oben, die Mondfinsternis wäre zu Ende und das helle Sonnenlicht fiele wieder ungehindert auf die Oberfläche des Mondes. Aber der Mond lag noch immer vollständig im Erdschatten und war so rund und braun wie zuvor.
Es war der Jupiter - der Jupiter leuchtete auf. Er war immer noch ein Lichtpunkt, aber viel heller, so hell, dass er scharfrandige Schatten auf den glänzenden Tang des Floßsubstrats warf. Das Licht wurde jedoch kleiner, als wiche es in die Ferne zurück. Und bald leuchtete der Jupiter wieder allein, so wie zuvor.
Das war die Arche, dachte sie sofort. Das war Grace. Was konnte es sonst sein?
Dann erschien am äußersten Rand des Mondes ein weißer Streifen, Mondberge, die ins Sonnenlicht explodierten. Lily war rasch geblendet und konnte den Jupiter nicht mehr sehen. Sie würde es nie erfahren.
»Ich habe euch hierhergebracht, nicht wahr? Ich habe euch am Leben erhalten.«
»Ja, Nathan.« Sie legte ihm eine Decke um die Schultern, während er hin und her schaukelte und etwas von Evolution, Schicksal und Kindern nuschelte, ein alter Mann, der über seinen arthritischen Schmerz gebeugt war. »Ja, das haben Sie.«
Aber wenn es die Arche Eins gewesen war, dachte sie, dann hatte die Crew den Zeitpunkt dieses seltsamen Aufbruchs vielleicht bewusst gewählt , in dem Wissen, dass die Mondfinsternis, dieses Schauspiel am Himmel, auf der dunklen Seite der Erde die Blicke auf sich ziehen würde. Es wäre ein tolles Kunststück, eine grandiose Art, auf Wiedersehen zu sagen.
»Ich habe euch am Leben erhalten. Wir müssen uns anpassen. Die Schimpansen, ich meine, die Kinder, sie müssen lernen …«
95
AUGUST 2048
Gary Boyle kam Lily auf ihrem langsam rotierenden Floß besuchen. Lily trat an den Rand des Floßes und sah zu, wie sich das Boot näherte.
Zusammen mit einem jüngeren Mann ruderte Gary herüber; beide legten sich kraftvoll in die Riemen. Sie kamen von einer Art verstreutem Archipel aus niedrigen, grünen Inseln. In Wahrheit waren es die Gipfel der Collegiate Peaks, einer Gebirgskette in den Rockies, der höchsten in den Vereinigten Staaten außerhalb von Alaska. Jetzt ragten diese riesigen Berge kaum noch aus dem Wasser.
Floßkinder schwammen um Garys Boot herum; ihre kleinen Körper tanzten wie Seelöwen auf und ab, während sie eines ihrer endlosen Nonsens-Lieder
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