Die letzte Flut
Doktor Noyes. »Hierher.«
Emmas Finger steckte in ihrer Nase. »Wer?«, fragte sie.
Hannah fuhr sie an: »Ach, frag nicht so blöd!«
Bei dem Gast konnte es sich nur um ein Wesen handeln. Die rosa- und rubinrote Taube zu ihren Füßen war ein ebenso deutlicher Hinweis wie ein in den Staub geschriebenes Autogramm – einer der zehntausend Namen Gottes. Irgendwann binnen der nächsten achtundvierzig Stunden würde Jahwe höchstpersönlich eben hier aus seiner Kutsche steigen.
»Oh du meine Güte«, sagte Mrs Noyes – ganz außer sich blickte sie sich im Hof um, so als wünschte sie sich, noch Zeit zu haben, die Bäume neu zu arrangieren.
»Oh mein…«, sagte Hannah. Sie hob die Hand zur Brust und lächelte.
Emma aber sagte: »Oh nein!«, setzte sich auf den Boden und heulte. Nicht der Gedanke, Gott zu sehen, erschütterte sie. Es war der Gedanke, gesehen zu werden.
Das alles geschah mitten am Nachmittag, als die Sonne den Zenit gerade überschritten hatte. Die Hitze im Hof war gleißend, fast weiß; ihr greller Glanz wurde von der ausgetrockneten, glatt gestampften Erde wieder nach oben projiziert. Genau im Zentrum dieses grellen Lichtes standen Doktor Noyes und seine Familie, alle waren durch die gerade empfangene Nachricht benommen, wie gelähmt. Am Rande des Hofes jedoch, unter den Bäumen, wo es kühl war, legte sich Emmas Hund mit hängender Zunge hin. Sein Hecheln war der einzige Laut, der zu hören war; sein Hecheln und das Gebrumm von Insekten. Selbst die Tiere, die sich im Schatten der Scheunen aufhielten, waren ganz still – auch die Spatzen, Stare und Laubsänger, die sich unter dem Dachvorsprung aneinander drängten, und die fünfzehn Störche auf dem Dach.
Als hielte er diese Stille vielleicht für eine Art Einsatzzeichen, stapfte plötzlich ein Pfau in den Staub hinaus und schlug ein Rad. Alle blickten auf und schauten zu ihm hin. Beim Betrachten des Pfauengefieders musste Noah ans Auge Gottes denken – das Zeichen war untrüglich.
Der Pfau kratzte im Staub, machte zwei Schritte nach vorn – einen Schritt zurück – zwei Schritte seitwärts in einer eleganten Pavane.
Als hielte er mit dem Vogel ein stilles Zwiegespräch, nickte Noah ihm zu; seine Finger spielten mit dem Brief in seiner Hand. Dann wandte er sich zu den anderen. »Es wird ein Opfer geben«, sagte er. »Heute Abend.«
Als Erster machte Sem Anstalten zu gehen.
Vor der Ankunft der Botin war er gerade dabei, auf der Wiese weiter unten am Berg Heu zu machen, und trug noch immer seine Sense. Ihr Gewicht auf seiner Schulter erinnerte ihn daran, dass er noch etwas erledigen musste. Nichts – nicht einmal die Ankunft Jahwes – durfte die Ernte aufschieben, sonst könnte der lang ersehnte Regen kommen und sie vernichten, sie am Boden erdrücken. Der Beginn des Regens würde auch die Knechte von den Feldern zurück zu ihren weit entfernten Heimatdörfern treiben; von dort, so wusste er, könnte man sie nie wieder zurückholen. »Für dich haben wir geschuftet, Master Sem«, würden sie sagen. »Jetzt ist der Regen da und wir haben vor, bis ans Ende unserer Tage zu feiern.« Sie lümmelten unter ihrem Hut bestimmt schon in der Sonne herum, nutzten Master Sems Abwesenheit aus und brachten ihn mit dem Erfüllen seiner Pflichten noch weiter in Verzug.
Sem war Noahs ältester Sohn und wurde seit jeher »der Ochs« genannt. Er war das größte und stärkste aller Kinder, die dem Doktor und Mrs Noyes geschenkt worden waren, und das erste Kind, das am Leben geblieben war. Sem mit den sandfarbenen Haaren, dem flachen Gesicht und den blassen Augen tat nichts anderes als essen, arbeiten und schlafen. An nichts anderes dachte er, für nichts anderes brachte er Begeisterung auf. Alles, was er vom Leben verlangte, war ein Pflug, hinter dem er hergehen, und eine Sense so scharf, dass man sich damit rasieren konnte. In Sems Sicht der Welt war alles, was zum Essen auf Tischen stand, für ihn bestimmt, waren alle Betten nur dazu da, damit er sich mit seinen riesigen Gliedern darauf ausstrecken und nach seiner Frau rufen möge, damit sie ihm zu Diensten sei. Für Sem, den Ochsen, war die Welt nur das, was er sah, und die Menschen darin lebten nur dann, wenn sie in seinem Blickfeld erschienen.
Sem wandte sich an seinen Vater. »Was soll ich sagen, Vater? Was soll ich den Knechten sagen?«
»Nichts«, sagte Doktor Noyes. »Sag niemandem etwas!«
»Sie werden erfahren, dass wir geopfert haben«, gab Sem zu bedenken. »Sie werden es
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