Kommt Schnee
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Baumer wohnte hinter dem Bahnhof Basel im Gundeldingerquartier. Dort, wo man immer Züge hört. Am Tag rumpeln die Personenzüge. Am Abend quietschen die Bremsen der Bummler. In der Nacht rattern die Güterzüge. Kies aus der Schweiz. Autos für Polen. Tote Hähnchen von Frankreich nach Italien. Noch später schleicht sich der Zug nach Amsterdam von Perron 9. Gegen Morgen erneut Lärm der Rangierarbeiter, welche die Kompositionen für den Tag zusammenstellen.
Baumer störten die unablässigen Geräusche nicht. Die Kakophonie aus metallischem Lärm gab Baumer Sicherheit. Er schloss daraus, dass es irgendwo dahinter ursächlich noch sinnvolle menschliche Aktivitäten geben müsse. Das Gerumpel war für ihn Sicherheit, dass die Außenwelt noch existierte.
Baumer war Polizist, und Freizeit gab es für ihn nie. Immer konnte ihn ein Telefonanruf erreichen. Sechs Uhr morgens. Zwei Uhr nachts. Vier Uhr neunundvierzig. Es machte keinen Unterschied.
Als Kommissar war er ein einsamer Mensch geworden. Vielleicht war er es ja auch schon immer gewesen. Sein Beruf war auf jeden Fall kein weiches Bett für einen gemütlichen Schlaf. Oft wusste Baumer gar nicht, wie spät es war, wenn er nach einer anstrengenden Schicht bei sich zu Hause einkehrte. Er kannte nur eine Einteilung in Tag und Nacht. Schwarz und Weiß. Leben und Tod.
Wenn ihm einer gesagt hätte, dass er heute einen brutalen Mord an einem jungen Menschen hautnah miterleben würde, ohne ihn verhindern zu können, er hätte es nicht geglaubt.
Wie hätte er es auch erahnen können? Dieser Tag begann für ihn wie jeder andere. Er war bei Bewusstsein und funktionierte doch nur wie ein Automat. Als Musik lief im Hintergrund der Lärm vom Bahnhof. Das Knirschen der Radgestelle auf den Schienen. Das Stampfen der deutschen Diesellok. Das manchmal langsame, manchmal explosionsartige Entweichen der Pressluft der Zugbremsen.
Heute war Baumer früher als üblich wachgeworden. Zuerst konnte er die wenigen Geräusche, die dumpf und zackig zugleich durch sein geschlossenes Fenster hereindrangen, nicht mit einer Uhrzeit in Verbindung bringen. Erst als in kurzer Folge drei überlange Züge vom westlichen Rangierfeld her einfuhren, wusste er, dass die großen Pendlerzüge nach Bern, Zürich und Genf bereitgestellt wurden. Doppelstockwagen. Das geschah immer kurz vor sechs. Wenn dann der erste dieser Züge mit müden Menschen gefüllt war, von denen viele schon in den Sitzen eingenickt waren, und der Pfiff des Zugleiters zur Abfahrt ertönte, wusste Baumer, wie spät es war.
6 Uhr 01.
Basel – Bern.
So war es auch diesen Morgen. Baumer hatte sich noch im Halbschlaf im Bett aufgerichtet. Nun kratzte er sich den Kopf, lange und ausführlich. Seine Hand fuhr vor und zurück, wie die Kolbenstange einer alten Dampflok. Pschii-Chrrr, Pschii-Chrrr, schliffen seine Fingernägel über die Haut. Die kurz geschorenen dunklen Haare prickelten in den Fingerspitzen. Baumer war schlaftrunken und nickte aufrechtsitzend wieder ein. Ein scharfer Pfiff weckte ihn. Es war das Signal einer feuerroten Rangierlok, die einem ebenfalls noch sehr müden Rangierarbeiter ein Warnzeichen gegeben hatte.
Wenig später hatte Baumer geduscht. Mechanisch, wie jeden Morgen. Zuerst hatte er die Brust eingeschäumt. Dann die Haare. Den Schwanz. Die Beine. Die Brust. Den Rücken. Mit dem rhythmischen Hin und Her, mit der Harmonie dieser Bewegungen wiegte er sich unabsichtlich wieder in einen halben Schlaf.
Baumer zwang sich, den Wasserhahn für Kaltwasser stärker aufzudrehen. Er hielt die aufkommende Kälte nur kurz aus. Es machte nicht wach, schmerzte nur. Also stoppte er den Wasserstrahl, packte ein Tuch, rieb sich trocken. Dann kleidete er sich ein mit dem, was halt so da war an Hose, Hemd und Jacke.
Mit dem Duschen war ein erster Hunger gekommen. Früher hatte er morgens immer in den Kühlschrank geschaut, ob etwas Essbares darin war. Ein Joghurt vielleicht? Käse? Es war selten etwas da. Und wenn, dann war es eingetrocknet oder verschimmelt.
Abgelaufen.
Also hatte er aufgehört hineinzuschauen. Also würde sein Frühstück auch heute aus ein oder zwei Croissants und ungezuckertem Kaffee bestehen, die er meist im ilcaffè zu sich nahm. Also verließ er seine Wohnung, die mehr Schlafhöhle denn Heim geworden war, ohne einen Blick darauf zu verschwenden, ob alles in Ordnung war.
*
Kommissar Baumer trat auf den Bürgersteig vor seinem Haus und stand beidfüßig hin. Er war mit einer seiner üblichen
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