Die letzte Jungfrau ...
sitzen.
Schließlich fluchte Rolly lautstark. “Und was machen wir jetzt?”
“Warst du es?”, fragte der Bürgermeister. “Du hast die Beaumonts doch nie ausstehen können. Hast du den Jungen zusammengeschlagen, nachdem wir anderen zwei weg waren?”
“Um Himmels willen, nein! Obwohl es mich durchaus in den Fingern gejuckt hat. Aber ich war’s nicht, ehrlich.”
Rasch stand Ben auf. “Ihr könnt doch nicht glauben, dass ich es getan habe!”
“Meine Herren, bitte!”, sagte der Bürgermeister in beschwichtigendem Ton. “So kommen wir doch nicht weiter. Die Frage ist vielmehr, was unternehmen wir jetzt? Soweit es mich betrifft, ist mir völlig klar, warum Sam Beaumont zurückgekommen ist.”
“Ja, um uns zu ruinieren”, erwiderte Ben und wurde rot. “Und Annie auch.”
Rolly seufzte. “Die Frage ist nur … überlassen wir ihm Annie, oder tun wir das einzig Ehrenhafte und retten sie wieder vor ihm?”
Bürgermeister Pike senkte den Kopf. “Ja, das ist die Kernfrage. Wir leben hier auf einer kleinen Insel und … Jungs, ich muss es doch nicht buchstabieren, oder? Hier ist es nicht wie anderswo. Der gute Ruf zählt alles.”
Ben Drake nickte. “Die Delacortes waren immer hoch angesehen. Ganz besonders Annie Delacorte: Sie hat die weißeste Weste von allen Inselbewohnern.”
“Nicht mehr lang, wenn Sam Beaumont hier länger rumhängt”, bemerkte Rolly. “Der stammt doch von Piraten ab, und das merkt man ihm auch an.”
Einen Moment lang schwiegen die drei Männer. Dann richtete der Bürgermeister sich kerzengerade auf und machte eine gewichtige Miene. “Soweit ich es sehe, haben wir keine Wahl, egal, wie die Folgen sind. Annie ist nicht nur unsere Volksschullehrerin und das leuchtende Vorbild für alle Unschuldigen in unserer Gemeinde, nein, meine Herren, sie hat sich auch vor nunmehr sieben Jahren an uns um Hilfe gewandt, und wir sind ehrenhalber verpflichtet, Annie Delacorte auch diesmal beizustehen. Es ist unsere Aufgabe, ihren Ruf zu wahren und zu schützen.”
Der Sheriff nickte niedergeschlagen. “Ja, uns bleibt nicht anderes übrig. Ich wünschte nur, wir wären nicht schon so alt. Es wird allmählich anstrengend, die drei Musketiere zu spielen.”
Ben schloss kurz die Augen. “Und ich wünschte, es würde nicht bedeuten …”
“Unsere Geheimnisse würden ohnehin irgendwann ans Tageslicht kommen”, versuchte Rolly ihn zu trösten. “Da können wir jetzt gleich das Richtige tun.”
“Wir sind uns also einig?”, fragte Bürgermeister Pike. “Alle für einen?”
“Und einer für alle”, erwiderten die beiden anderen wie aus einem Mund.
1. KAPITEL
Annie Delacorte schob den Einkaufswagen durch Drake’s Supermarkt, der für einen Mittwoch ungewöhnlich gut besucht war. Überall standen Kunden beisammen, die sich angeregt unterhielten — und ihr seltsame Blicke zuwarfen. Das munterte sie enorm auf. Vielleicht hatte sie ja endlich etwas getan, was ihre Mitbürger schockierte, und genau darauf legte sie es schon seit geraumer Zeit an.
Allerdings wollte sie ihren guten Ruf nicht völlig zerstören. Oh nein. Sie wollte ihn lediglich ein bisschen ‘ankratzen’, zum Beispiel indem sie sich eine purpurrote Strähne ins blonde Haar gefärbt hatte. Vielleicht würden die anderen dann nicht völlig entsetzt sein, wenn sie eines Tags ihr Geheimnis entdeckten. Nein, dann konnten sie beispielsweise sagen: “Für eine wohlerzogene Delacorte hat sie sich schon immer reichlich seltsam benommen, aber das erklärt alles.”
Rosie Hinkle und ihre Freundinnen, allgemein als der ‘Gluckenclub’ bekannt, unterhielten sich leise beim Gemüseregal, und unauffällig schob Annie den Wagen näher. Bei den zu einer Pyramide aufgeschichteten Grapefruits blieb sie stehen, aber keineswegs um zu lauschen. Oh nein, Sankt Annie würde so etwas niemals tun. Sie verzog selbstironisch die Lippen. Wenn die anderen nur wüssten!
“… zurück. Mein Bertie hat es mit eigenen Augen gesehen”, sagte Rosie Hinkle gerade. “Und Sheriff Rawling hat es bestätigt.”
“Das gibt’s doch nicht! Nach all den Jahren”, meinte eine der anderen Frauen. “Der Junge hat echt Nerven.”
Welcher Junge, fragte Annie sich. Einer ihrer Schüler? Wenn sie doch nur einige Minuten früher gekommen wäre, wüsste sie es jetzt. Sie seufzte frustriert.
“Er ist zurück, ich schwör’s! Mein Bertie lügt nicht”, bekräftigte Rosie.
“Jedenfalls nicht mehr seit seinem elften Lebensjahr”, bestätigte eine ihrer
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