Die letzte Jungfrau ...
mehr Nachdruck zu verleihen, richtig?”
Nein, ich werde jetzt nicht weinen, sagte Annie sich und blickte starr auf die Wand. Dort hingen zwei Gipsabdrücke von Kinderhänden: Den einen hatte sie im Kindergarten fabriziert, den anderen Sam einige Jahre vor ihr. Man sah, dass er seine Hand mit viel Kraft in die Gipsmasse gedrückt hatte. Ja, schon als Fünfjähriger hatte er sich energisch den Weg durchs Leben gebahnt.
“Annie?”, fragte Sam. “Träumst du?”
Vor sieben Jahren hatte sie davon geträumt, Sam zu heiraten und mit ihm Kinder zu haben, deren Handabdrücke einmal neben denen der Eltern hängen würden — aber dieser Traum würde nun nie mehr in Erfüllung gehen. Schlagartig kam Annie in die Wirklichkeit zurück.
“Was hast du gefragt, Sam?”
“Ob du träumst. So leicht entkommst du meinen Fragen aber nicht”, antwortete er. “Ich habe noch viele, die du mir alle irgendwann beantworten wirst.”
“Welchen Sinn hätte das? Was passiert ist, ist passiert. Es ist vorbei. Darüber zu reden ändert gar nichts.”
“Ich wollte meine Zeit ohnehin nicht ständig mit Reden verschwenden. Du weißt doch, dass ich schon immer ein Mann der Tat war.”
“Ich lasse es nicht zu”, rief sie heftig.
“Was? Dass ich Vergeltung übe?”
“Das auch nicht, aber ich meinte, dass du mir Tante Myrtle wegnimmst.”
“Wie kommst du jetzt auf Myrtle?”
“Weil ich nicht eine Sekunde lang glaube, dass du meinetwegen zurückgekommen bist und dich an mir dafür rächen willst, dass ich dich von der Insel habe verweisen lassen.”
“Verweisen lassen?”, wiederholte er, und sie wusste, sie hatte mal wieder das Falsche gesagt. “Deine Wortwahl ist schon bemerkenswert, mein Schatz. Daran müssen wir noch etwas arbeiten.”
“Kinder, Kinder!”, sagte Myrtle tadelnd von der Tür her. “Ihr streitet doch nicht, oder?”
“Nein”, erwiderte Annie sofort.
Myrtle war sechzig, sah aber älter aus, da das Leben hart mit ihr umgesprungen war. Sie hatte eine schwere Jugend verlebt und mit Mitte dreißig einen schweren Autounfall überstanden, nach dem sie allerdings gehbehindert geblieben war. Trotzdem hatte sie sich ihren Sinn für Humor bewahrt und war so herzensgut, dass sie von jedermann geschätzt und geliebt wurde.
Sie hinkte in die Küche, gestützt auf den Stock mit einem Paradiesvogel als Knauf, den Annie ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. “Ist es nicht eine wunderbare Überraschung, dass Sam zurückgekommen ist, Annie?”
“Ja, ich finde es auch herrlich.” Das war nicht einmal gelogen, denn Annie hatte ihn zwar damals abgewiesen, aber an ihren Gefühlen für ihn hatte sich nichts geändert.
“Du wirst natürlich bei mir wohnen”, lud Myrtle ihn ein, umarmte ihn fest und küsste ihn auf die Wangen.
Er nickte und führte sie zu einem Stuhl. “Danke, das tue ich gern. Ich möchte auf dem Familiensitz nach dem Rechten sehen und feststellen, wie baufällig das Haus inzwischen ist.”
“Es ist in einem fürchterlichen Zustand”, mischte Annie sich ungefragt ein. “Die Stürme haben ihm ziemlich zugesetzt.”
“Annie geht gelegentlich hinüber und kümmert sich darum, dass wenigstens gelüftet wird und die schlimmsten Schäden repariert werden”, erklärte Myrtle.
Annie zuckte die Schultern. “Ich dachte mir, dass du eines Tags zurückkommen würdest. Außerdem schulde ich dir doch etwas.”
“Und jetzt ist Zahltag.”
“Aber Sam, das klingt ja richtig drohend”, tadelte Myrtle ihn. “Wenn du dauernd so etwas sagst, werden die Leute zu tratschen anfangen.”
“Das ist schon passiert”, informierte Annie sie.
“Sie haben ja auch keine andere Zerstreuung”, erwiderte Myrtle heiter. “Und Sam tut nichts, um die fehlgeleiteten Ansichten über ihn zu entkräften. Das wird sich aber schon noch ändern, wenn er eine Weile hierbleibt.”
“Erwarte nicht zu viel, meine Liebe.” Er strich ihr über die Wange und lächelte mutwillig. “Über mich hat man schon immer gern geklatscht.”
“Du warst tatsächlich seit jeher ein bisschen ungebärdig”, bestätigte Myrtle und erwiderte sein Lächeln. “Das liegt an deiner Abstammung.”
“Na schön, da ich also sozusagen verpflichtet bin, den Leuten Anlass für Tratsch zu liefern, fange ich am besten sofort damit an.” Er wandte sich Annie zu. “Ich fahre jetzt zu meinem Besitz. Kommst du mit? Du kannst mir zeigen, was du alles an dem alten Haus hast machen lassen, während ich weg war.”
Sie lächelte ihn
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