Die letzte Lagune
standen fünf große
Holzschränke. Vier Schränke enthielten Manuskripte und
Urkunden, teilweise aus Pergament. Der fünfte Schrank war
vollgestopft mit Exemplaren einer Zeitschrift, die sich Emporio della
Poesia nannte. Wonach er suchte, schien
sich nicht hier zu befinden.
Als er sich zur
Tür wenden wollte, fiel sein Blick auf ein kleines Bild, das
zwischen den beiden Fenstern zum Canalazzo hing. Es hatte die
Größe eines Kanzleibogens - eine Zeichnung, mit
rötlichem Stift auf hellblauem Papier ausgeführt, die den
Kopf eines Engels darstellte. Die Zeichnung gefiel ihm. Sie schien
wertvoll zu sein. Er beschloss, sie mitzunehmen,
gewissermaßen zur Tarnung. Das sah sein Plan zwar nicht vor,
aber er war sich sicher, dass sein Auftraggeber diese Improvisation
billigen würde.
Er verließ das
Zimmer des Commissario, machte ein paar Schritte über den Flur
und lief dann in unhörbaren Sätzen die Treppe hoch. Im
Hauptgeschoss des Palazzo, der bel étage, lagen der Ballsaal,
der Salon der Contessa, zwei weitere Salons, das große
Speisezimmer und die Hauskapelle der Trons. Wie die Tür zum
Zimmer des Commissario war auch die Flügeltür zum
Ballsaal nicht verschlossen. Er drückte die Klinke
geräuschlos nach unten, schob einen Türflügel auf
und blickte in einen hohen Raum, dessen Proportionen ihm trotz oder
gerade wegen des schwachen Lichts seiner Blendlaterne riesenhaft
vorkamen. Ein Geruch nach Sandelholz und Patschuli schwebte in der
Luft und beschwor Bilder von Damen in Reifröcken und
Kavalieren in Kniebundhosen herauf. Dies also, dachte er mit einem
Anflug von Ehrfurcht, war der Schauplatz der legendären
Maskenbälle, die die Contessa Tron jedes Jahr zur
Karnevalszeit veranstaltete.
Die sala war bis auf zwei
gewaltige Konsoltische und ein gutes Dutzend gepolsterter
Stühle, die aufgereiht an den Wänden standen,
vollständig leer. Lediglich zwischen den Fenstern zum
Canalazzo stand ein schmales, mannshohes Möbelstück,
über das ein Tuch gebreitet war. Als er näher trat und
das Tuch entfernte, sah er, dass es sich um eine verglaste Vitrine
handelte. Und dann stellte er überrascht und erleichtert fest,
dass er viel schneller als erwartet ans Ziel gelangt zu sein
schien. Nicht dass er genau wusste, was er suchte. Die Beschreibung
seines Auftraggebers war reichlich vage gewesen. Um ein altes
Gefäß ging es - aus Glas oder Alabaster, vielleicht aber
auch aus Gold.
Auf einer Unterlage
aus schwarzem Samt stand ein Kelch, der aus zwei Halbschalen
zusammengesetzt war. Die obere war größer als die
untere, die als Fuß diente. Das Gefäß war aus
Glas, die Oberfläche mattiert, sodass man auf den ersten Blick
denken konnte, es bestünde aus Bergkristall oder sehr hellem
Alabaster. Das Glas, eine Art Opalglas, schimmerte im Schein der
Blendlaterne. Es schien das Licht zu speichern und in pulsierenden
Schüben wieder abzugeben. Das Gefäß sah aus, als
hätte es vor langer Zeit rituellen Zwecken gedient. Doch
welchen? Handelte es sich um einen Taufbecher? Oder einen
Abendmahlskelch? Andererseits war das Glas so groß, dass man
es ohne weiteres als Eisbecher hätte verwenden können.
Aber es war nicht seine Aufgabe, darüber nachzudenken.
Außerdem wurde es Zeit, geräuschlos zu
verschwinden.
Er setzte die
Blendlaterne ab und schlug das Glas vorsichtig in das weiche Tuch
ein, das er mitgebracht hatte. Seine Beute verstaute er in einem
Lederbeutel, den er an seinem Gürtel befestigte. Er würde
zwei Hände brauchen, um vom Mezzaningeschoss wieder auf das
Eis des Canalazzo hinabzusteigen, eine Hand für die Leiter,
die andere für die Zeichnung. Er breitete das Tuch wieder
über die Vitrine und wandte sich zum Gehen. Die Trons
dürften den Einbruch spätestens morgen Mittag entdeckt
haben, aber das konnte ihm egal sein. Es gab keine Spuren, die auf
ihn hindeuteten.
Er verließ
die sala, stieg lautlos die Treppen zum
Mezzaningeschoss hinunter und durchquerte zum zweiten Mal das
Zimmer des Commissario. Das kleine Bild über die vereisten
Leitersprossen nach unten zu transportieren kam einer akrobatischen
Leistung gleich, aber es war zu schaffen. Als er die Zeichnung von
der Wand nahm, dachte er an seinen Auftraggeber, der jetzt in der
Wohnung an den Fondamenta Nuove auf ihn wartete. Ein
Hochgefühl stieg in ihm auf. Er hatte unverschämtes
Glück gehabt. Alles war erstaunlich glatt und schnell
gegangen. Er dachte auch an die fünfzig Lire, die er nachher kassieren
würde - eine enorme Summe. Aber nicht jeder
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