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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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gingen auf den Canalazzo hinaus, genauer gesagt auf einen
schmalen Balkon, dessen Brüstung hinter den hellen
Seidengardinen zu erkennen war. Ein riesiges, den Proportionen des
Raumes angepasstes Sofa mit hoher Lehne stand vor einem Kamin, den
es vollständig verdeckte. Es war unvenezianisch warm in diesem
Raum, fast zu warm, was daran lag, dass Marchmains living
room zusätzlich zum Kamin durch
zwei gewaltige, säulenförmige Kachelöfen beheizt
wurde. Über dem Kamin hing ein farbenfrohes Gemälde der
heiligen Magdalena im Alter von höchstens zwölf Jahren,
flankiert von zwei knallbunten Darstellungen der Jungfrau Maria,
ebenfalls in merkwürdig jungem Alter dargestellt. Tron
erinnerte sich dunkel daran, gehört zu haben, dass Marchmain
katholisch war.
    Der Diener Marchmains
hatte ihnen zwei plüschige Fauteuils an einer der
Längswände der ehemaligen sala zugewiesen, von denen aus sie
direkt auf die hohe Rückenlehne des Sofas blickten. Tron
wollte eben eine Bemerkung über das auffällig jugendliche
Alter der heiligen Magdalena über dem Kamin machen, als der Ispettore
plötzlich die Augenbrauen emporzog und den rechten Zeigefinger
auf seine Lippen legte. Zugleich zeigte er mit der anderen Hand auf
die Rückenlehne des Sofas. Jetzt hörte Tron es ebenfalls
- Atemgeräusche und leises Flüstern auf der anderen Seite
der Sofalehne. Polster knarrten, die hohe Lehne des Sofas schien
sich minimal zu bewegen.
    Bossi stand auf, und
als er sich dem Sofa näherte, geschah das Unerwartete. Es
waren eine junge Frau und ein junger Mann, die sich aus dem Sofa
erhoben. Vermutlich hatten sie, dachte Tron, der zu überrascht
war, um sofort das Lachhafte der Szene zu registrieren - vermutlich
hatten sie zuerst die Hoffnung gehegt, dass die Besucher sich
wieder entfernen würden. Doch als sie Bossis Schritte
gehört hatten, waren sie aufgestanden, um sich nicht in einer
noch kompromittierenderen Lage erwischen zu lassen. Einen kurzen
Moment lang standen sie starr zu beiden Seiten des Sofas und warfen
entsetzte Blicke auf die Besucher.
    Tron schätzte den
Mann auf höchstens dreißig. Er trug einen braunen
Gehrock, war von mäßiger, etwas dicklicher Statur und
hatte dünne, graublonde Haare, die strähnig in die
Schläfen gebürstet waren. Der Kopf stand ihm etwas schief
auf dem Hals, er atmete schwer, und sein Mund war geöffnet, so
als wäre er im Begriff, etwas zu sagen. Dabei hatte Tron den
Eindruck, als würde sich trotz der peinlichen Lage eine Spur
Stolz in die erschrockene Miene des jungen Mannes
mischen.          
    Denn die junge Frau
auf der anderen Seite des Sofas war außerordentlich
schön. Schlank und hochgewachsen, war sie in eine Art
gehobenes Zofen-Habit gekleidet. Dass es sich bei ihr nicht um ein
gewöhnliches Dienstmädchen handelte, sah Tron sofort. Mit
der linken Hand hielt sie ihre oben aufgeknöpfte Bluse
zusammen, während die rechte nervös ihr kastanienbraunes,
lockiges Haar zurückstrich. Die beiden wechselten einen
schnellen Blick, dem ein kurzes Nicken vonseiten des Mannes folgte.
Dann drehte sich der Mann wortlos auf dem Absatz um und
verließ den Raum durch eine der sich an der Längswand
befindlichen Türen. Die junge Frau wandte sich ebenfalls
hastig zur Seite und durchquerte die sala mit schnellen Schritten, um durch
eine Tapetentür zu verschwinden, die Tron übersehen
hatte. Dies alles - das Aufstehen, die Blicke und das Verlassen des
Raumes - hatte nicht länger als zwanzig Sekunden
gedauert.
    *
    Eine Gelegenheit, sich
über diese Seltsamkeit auszutauschen, gab es nicht, denn
wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür,
durch die der junge Mann verschwunden war, und der Hausherr betrat
den Raum.
    William T. Marchmain
war ein Mann in den Fünfzigern, bartlos, mit bräunlichem
Teint, sinnlichen Lippen und scharfen, fast groben, aber dabei
nicht unintelligenten Gesichtszügen. Er trug einen
dunkelgrauen, nach der letzten Mode geschnittenen Gehrock, dazu,
wenig passend, ein Paar hochhackige, mexikanisch anmutende Stiefel.
Seine dichten haselnussbraunen Haare hatten nicht den geringsten
Einschlag ins Graue. Tron vermutete, dass Marchmain sie
nachfärbte. Der Auftritt des Amerikaners, raumgreifend und
dominierend, passte zum grobschlächtigen Meublement des
Raumes. In der linken Hand hielt Marchmain die Visitenkarte, die
Tron dem Diener gegeben hatte, die rechte streckte er dem Besucher
bereits im Gehen entgegen, ergriff dessen Hand und drückte sie
so stark, dass Tron

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