Die letzte Lagune
Commissario?»
«Wir
könnten ...», antwortete Tron und brach den Satz sofort
wieder ab. Zum Ersten, weil er keine Ahnung hatte, wie er ihn
beenden sollte. Zum Zweiten, weil sie sich jetzt durch eine
Menschenmenge drängen mussten, die ein bizarres Ergebnis des
ungewöhnlich scharfen Frostes bestaunte.
An der Mündung
des Rio Foscari war beim Schneefegen ein untergegangener Lastkahn
auf dem Grund des Canalazzo entdeckt worden. Die donna
mercato, die ihre Früchte zum Rialto
hatte bringen wollen, saß dort - zwei Meter tief unter
durchsichtigem Eis - in ihren Plaids und Reifröcken, den
Schoß voller Äpfel, ganz genau so, als wäre sie im
Begriff, einen Kunden zu bedienen, wenn auch eine gewisse
Bläue um ihre Lippen die Wahrheit andeutete. Unter welchen
Umständen der Kahn gesunken war, blieb unklar. Aber die
Besichtigung der Obstfrau war bei den Fremden inzwischen beliebter
als die Besichtigung von Tizians Assunta in der
Frari-Kirche.
Nachdem sie die Menge
durchquert hatten, wiederholte Bossi seine Frage. «Wie
begründen wir unseren Besuch bei Marchmain?»
«Ich denke, wir
könnten sagte Tron und brach den Satz abermals ab. Jetzt hatte
auch sein rechter Stiefel angefangen zu knarren.
«Seine
Aufenthaltsgenehmigung überprüfen?» Bossis Tonfall
war frostbedingt verzerrt. Es blieb offen, ob der Ispettore es
ernst meinte.
«Seien Sie nicht
albern, Bossi.»
«Zwischen dem
Mord an Petrelli und Marchmain gibt es nicht die geringste
Verbindung.»
«Die Contessa
sieht das anders.»
«Also gehen wir
hin und teilen ihm mit, dass wir vermuten, er stecke hinter dem Einbruch im
Palazzo Tron und dem Mord an Petrelli», sagte Bossi.
«Weil er um jeden Preis einen Prototyp des Glases haben
wollte.»
Tron schüttelte
den Kopf. «Natürlich nicht. Wir erkundigen uns nach
seinem Alibi. Dafür müssen wir uns nicht
rechtfertigen.»
«Und wenn er
nach einer Begründung fragt?»
«Dann
erklären wir ihm, dass es um einen Einbruch und einen Mord
geht und wir ihm leider aus ...» Wieder fiel Tron nicht ein,
wie er den Satz beenden konnte.
«Aus
ermittlungstechnischen Gründen?», schlug der Ispettore
vor.
Trons Miene hellte
sich auf. «Genau, Bossi. Dass wir aus ermittlungstechnischen Gründen nicht
mehr sagen dürfen. Ermittlungstechnische
Gründe. Das hört sich immer gut
an.»
Tron zog seinen
Zylinderhut nach unten - ein vergeblicher Versuch, sich gegen den
Eiswind zu schützen, der von Osten her durch die Stadt fegte.
Dabei gab die mit einer dünnen Eisschicht überzogene
Krempe des Hutes ein Geräusch von sich, als würde man in
ein leckeres Teilchen aus frischem Blätterteig
beißen.
*
Geld, sehr viel Geld -
massenhaft Dollars. Das war der erste Eindruck, den ein Besucher
empfing, der das Treppenhaus des Palazzo Zafon betrat. Hier gab es
keine ausgetretenen Stufen, keinen abblätternden Putz, keine
hellen Rechtecke an den Wänden, die verrieten, dass die
Eigentümer genötigt gewesen waren, sich von Teilen ihrer
Bildergalerie zu trennen - ganz im Gegenteil. Tron registrierte
zwei Tiepolos, einen Guardi und einen Veronese, als er mit Bossi
die Treppen emporstieg. Marchmain hatte nicht geknausert, als er
den Palazzo Zafon vor zwei Jahren erworben und restauriert
hatte.
In der ersten
Hälfte des Jahrhunderts hatten die Engländer den
verblichenen Charme der Lagunenstadt entdeckt und sich Paläste
am Canalazzo zugelegt. Jetzt waren die Amerikaner an der Reihe, und
offenbar setzten sie alles daran, ihre englischen Vettern in den
Schatten zu stellen. Der Palazzo Zafon war dreihundert Jahre alt,
aber Tron musste an einen Artikel in der Gazetta di Venezia über
amerikanische Millionäre denken, die sich in New York
Paläste im Stil der italienischen Renaissance errichten
ließen. Alles hier war ein wenig überrestauriert - der
Marmor war zu glatt, die Farben zu frisch und zu bunt.
Ein Diener hatte sie
nach dem Empfang von Trons Visitenkarte im Vestibül des ersten
Stocks ein paar Minuten warten lassen und sie dann - offenbar auf
Weisung des Hausherrn -in den ehemaligen Ballsaal des Palazzo Zafon
geführt. Ballsaal, sala - das sah Tron sofort - war nun
allerdings nicht mehr das rechte Wort für einen Raum, dessen
venezianischer Terrazzoboden vollständig mit persischen
Teppichen bedeckt war. Marchmain hatte die ehemalige sala in einen
gigantischen living room verwandelt, auch durch
die Aufstellung von modernen Sitzgarnituren, was dem Raum zugleich
den unpersönlichen Charakter einer Hotellobby gab. Vier hohe
Fenster
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