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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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unwillkürlich das Gesicht verzog - es war
der Händedruck eines Mannes, der es gewohnt war, sich, ohne
viel zu fragen, zu nehmen, was er wollte.
    Der Schmerz in den
Fingern und der bloße Anblick Marchmains, die energische Art und
Weise, wie er sich bewegte, sein kraftstrotzender Habitus - alles
das versetzte Tron augenblicklich in einen Zustand nervöser
Erschöpfung. Es war schlechthin rätselhaft, was diesen
Mann dazu bewogen hatte, seinen Wohnsitz ausgerechnet im dekadenten
Venedig zu nehmen.
    «Ich
hatte», sagte Marchmain mit metallisch klingender
Stentorstimme, nachdem er Bossi einen ebenso kraftvollen
Händedruck verpasst hatte, «noch nicht das
Vergnügen, die Bekanntschaft der hiesigen Polizei zu
machen.» Sein Italienisch war tadellos, der Akzent allerdings
unüberhörbar angelsächsisch. Am linken Handgelenk
trug er eine Kette aus schwerem Gold, die bei jeder Bewegung leise
klirrte.
    Tron ging davon aus,
dass sich Marchmain von einleitenden Höflichkeitsfloskeln eher
belästigt fühlen würde. «Es geht um einen
Einbruch, der vergangenen Sonntag im Palazzo Tron stattgefunden
hat», sagte er, indem er gleich zur Sache kam.
    Marchmain hob die
Augenbrauen. «In den Palazzo der Glasfabrikantin? Hier am
Canal Grande?»
    «In den Palazzo
meiner Mutter», sagte Tron.
    «Ich hatte nie
die Ehre, Ihre Mutter persönlich kennenzulernen», sagte
Marchmain ein wenig förmlich. «Und weshalb kommen Sie zu
mir?»
    Tron hielt es für
überflüssig, den Diebstahl der Zeichnung zu
erwähnen. «Bei dem Gegenstand, der aus dem Haus meiner
Mutter gestohlen wurde, handelt es sich um den Prototyp eines
Eisbechers.»
    Die Verblüffung
Marchmains war entweder echt, oder er war ein begnadeter
Schauspieler. « Was ist gestohlen
worden?»
    «Der Prototyp
eines Eisbechers, Signor Marchmain. Und da sonst nichts aus dem
Palazzo Tron entwendet wurde und der Eisbecher praktisch wertlos
ist...» Tron ließ den Satz unvollendet.
    Marchmain lachte.
«Vermuten Sie einen Fall von Industriespionage. Stehe ich
unter Verdacht?»
    «Es geht nicht
nur um einen Diebstahl», sagte Tron. Er legte eine Pause ein,
um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen. Dann
sagte er: «Der Einbrecher ist noch in der Nacht des Einbruchs
ermordet worden.»
    Viele Amerikaner, auch
diejenigen, die in der Stadt lebten und es eigentlich besser wissen
mussten, hielten Venedig für ein unsicheres Pflaster.
Nächtliche Morde gehörten für sie zum Lokalkolorit.
Marchmains Augen zuckten auch nur kurz. Er schien nicht beeindruckt
zu sein. «Und der Eisbecher?»
    «Ist
verschwunden», sagte Tron. «Und wenn dieser Einbruch
kein Zufall war und der Einbrecher den Prototyp nicht zufällig
mitgenommen hat, dann ist der Einbruch im Palazzo Tron bestellt
worden, und der Auftraggeber hat Petrelli ermordet, um seine Spuren
zu verwischen.»
    Tron stellte
plötzlich fest, dass ihm dieser Amerikaner mit dem goldenen
Kettchen auf die Nerven ging. Zugleich hatte er den Eindruck, dass
Marchmain mit dem Mord an Petrelli nichts zu tun hatte.
«Signor Marchmain», sagte er, «wir können es
kurz machen. Wo sind Sie in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag
gewesen?»
    Die Unterstellung, die
in dieser Frage lag, war deutlich, und Tron hatte eine geharnischte
Antwort erwartet. Aber Marchmain wurde nur etwas blass um die Nase.
«Zufällig», sagte er in sachlichem Ton,
«habe ich für diese Nacht ein perfektes Alibi. Ich war
auf einem Empfang des amerikanischen Konsuls im
Danieli.»
    Einen Moment lang
dachte Tron, Sir Marchmain würde, nachdem er das gesagt hatte,
die Unterredung für beendet erklären, aber dann schien
dem Amerikaner noch etwas einzufallen. «Es gibt übrigens
jemanden, der ein gutes Motiv hätte, in den Palazzo Tron
einzubrechen», sagte er. «Sie kennen Dr. Flyte? Den
Historiker, der zurzeit in der Marciana arbeitet?»
    «Nicht
persönlich. Aber ich weiß, dass er über den vierten
Kreuzzug forscht.»
    «Dr. Flyte ist
der Sohn meines verstorbenen Bruders», sagte Marchmain.
«Er trägt den Mädchennamen seiner Mutter»,
setzte er erläuternd hinzu. «Offenbar interessiert es
ihn, wie es dazu kam, dass ein christliches Kreuzfahrerheer eine
christliche Stadt zerstörte. Sebastian scheint entschlossen zu
sein, den Fall aufzuklären.» Marchmain lächelte
zynisch. «Und dabei kein Risiko mehr
einzugehen.»
    «Welches
Risiko?», wollte Tron wissen.
    «Mein
Neffe», sagte Marchmain, «hat ein Tagebuch Ihres
Vorfahren entdeckt. Und er kann nicht ausschließen, dass

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