Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Jahrtausend, wirkt sie wie eine steinalte Ruine.
Auf der Orchard Street leuchten Lichterketten, um auf den Beginn der vorweihnachtlichen Einkaufszeit hinzuweisen. Während O’Hara und Krekorian weiter Richtung Süden gehen, raunen ihnen die indischen Ladenbesitzer in den Türeingängen zu: »Sehr guter Preis«. Sie versuchen sie, auf die Ständer mit Ledermänteln für 79 Dollar auf dem Bürgersteig aufmerksam zu machen. Schon vor zehn Jahren gab es hier im Viertel Schnäppchen an jeder Ecke und die kleinen engen Läden waren derart mit Billigware vollgestopft, dass diese förmlich bis auf die Straße quoll. Die beiden Straßenzüge auf der Orchard Street zwischen der Rivington und Delancey sind jetzt alles, was davon übrig ist. Die Ausnahme von der Regel, die einzig dazu dient, den falschen Spelunken, teuren Restaurants und feinen Boutiquen einen authentischen Hintergrund zu liefern.
Orchard Street 78 liegt auf halber Strecke zwischen Broome und Grand auf der Ostseite des Häuserblocks. Keine acht Minuten nachdem sie aus dem Wagen stiegen, treten sie in den mit China-Imbiss-Flyern tapezierten Eingangsbereich und schleppen sich die Marmorstufen des alten gekachelten Treppenhauses hinauf. Die Stufen sind so ausgetreten, dass sie wie weicher Teig aussehen.
Die Tür von Apartment 5B ist unverschlossen und steht einen Spaltweit offen. Als sie klopfen und eintreten, blickt ihnen McLain von einem winzigen Sofa aus entgegen. Er hält einen Pappbecher in der Hand und eine halbe Flasche Jack Daniel’s klemmt zwischen seinen knöchelhohen Basketballschuhen. Im Zimmer stinkt es bestialisch nach Dope. Das deftige Bouquet erinnert O’Hara an den Feuerwehrmann, denn in schwachen Momenten trauert sie nicht nur dem untreuen Kiffer, sondern vor allem seinen Drogenvorräten nach. Aus irgendeinem ungerechten Grund werden die Beamten des NYPD auf Marihuana getestet und die des Fire Department New York nicht, was bedeutet, dass sie und der Feuerwehrmann vielleicht von vornherein keine gemeinsame Zukunft hatten.
»Feierst du eine Party?«, fragt Krekorian.
»Nein«, sagt McLain. »Ich besauf mich bloß.«
»Wie lange schon?«
»Was ist heute für ein Tag?«
»Montag, Chef.«
»Schon eine Weile.«
»Gibt’s hier ein Bett?«
»Ich sitze drauf.«
»Und wo schläfst du?«
»Ich schlafe nicht.«
»Hast du da geschlafen – als du noch geschlafen hast?«
McLain nickt in Richtung eines lilafarbenen Schlafsacks auf dem Fußboden.
»Deine Exfreundin hat auf dem Sofa geschlafen und du neben ihr auf dem Boden? Muss Spaß machen. Und das ging fast einen ganzen Monat lang so?«
»Ist ihre Wohnung. Sie hätte mich auch gar nicht bei sich übernachten lassen müssen.«
»Hat sie auch mal Jungs mitgebracht?«
»Zweimal.«
»Wollte sie, dass du zusiehst?«
»Sie hat von der Straße unten aus angerufen. Ich bin dann spazieren gegangen.«
»Acht Stunden lang?«
»Bin runter zum Battery Park, hab die Sonne aufgehen sehen. Kann ich nur empfehlen – macht einen klaren Kopf.«
»Ist dir schon mal aufgegangen, dass dir deine Ex vielleicht etwas mitteilen wollte? Dich so fest mit der Nase darauf stoßen wollte, bis du den Hinweis verstehst und sie in Ruhe lässt?«
»Schon möglich. Aber das glaube ich nicht. Sie hat sich genauso auf unser gemeinsames Thanksgiving gefreut wie ich.«
»So hast du dir das also vorgestellt: Du brätst einen schönen Truthahn und sie kapiert, was für einen Fehler sie gemacht hat.«
»Im Prinzip schon.«
Auf dem Weg nach oben waren die beiden überein gekommen, dass Krekorian die Fragen stellen und sich O’Hara umsehen sollte. Aber McLain antwortet derart arglos, dass Krekorian ihn nicht zu fassen bekommt und die Wohnung ist so klein und so spärlich möbliert, dass O’Hara nicht viel zum Umsehen hat. An der Wand hinter McLain steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode und ein Stapel Lehrbücher, aber abgesehen von der iPod-Station auf dem Tisch und einem kleinen Haufen zusammengeknüllter Geldscheine auf der Kommode gibt es keinen einzigen persönlichen Gegenstand. Es sieht aus, als sei Pena nur übers Wochenende hier eingezogen und nicht bereits vor vier Monaten. Was O’Hara allerdings stärker beunruhigt ist der Umstand, dass von McLains Thanksgivingmahlzeit keine Spur zu sehen ist.
»David«, fragt O’Hara, »hast du den Truthahn aufgegessen?«
»Zu deprimierend. Hab ihn weggeworfen.«
»Was ist mit den Töpfen und Pfannen?«
»Hab ich abgespült.«
»David, ich brauche eine
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