Die letzte Nacht der Unschuld
spielte mit seinen Haaren, und ihr Herz floss über vor Liebe für ihren Jungen. Sie hätte eine Mütze für ihn mitbringen sollen. Er würde noch eine Ohrenentzündung bekommen, oder …
„Er sieht glücklich aus.“
Unwillkürlich versteifte Colleen sich und stählte sich gegen die sinnliche tiefe Stimme. „Er sieht aus, als sei ihm kalt.“
„Du auch.“
Schon spürte sie Cristianos Jacke auf ihren Schultern und seinen weichen Kaschmirschal um ihren Hals. Mit dem Schal zog er sie an sich. Die Wärme seines Körpers drang durch ihre Haut, sein Duft hüllte sie ein. Mit Augen, so dunkel wie Espresso, schaute er sie an.
„Du bist so darauf bedacht, dich um Alexander zu kümmern, dass du vergisst, an dich selbst zu denken.“
Er hatte recht, wie ihr klar wurde. Nur von dem Gedanken beherrscht, Alexander die Jacke zu bringen, hatte sie die eigene im Wagen liegen lassen. Der Kuss war praktischem Denken auch nicht unbedingt zuträglich gewesen.
Colleen schloss die Augen. Es war so schwer, stark zu bleiben und Cristiano zu widerstehen, und sie fühlte sich so unendlich müde. Sie wollte nicht länger auf das nächste Desaster warten und sich schon gar nicht ständig für die nächste Katastrophe wappnen.
„Seht nur, eine riesengroße Qualle!“ Alexanders Ruf schallte mit dem Wind zu ihnen herüber.
Colleen riss besorgt die Augen auf. „Fass sie nicht an!“, rief sie zurück, doch Cristiano eilte schon mit schnellen Schritten zu Alexander. Wie gebannt beobachtete sie ihn. Der Wind zerrte an seinen Haaren und presste das Hemd gegen seine Brust, machte die Konturen seines Körpers sichtbar, der ihr so viel Freude geschenkt hatte … Schuldbewusst verdrängte Colleen die Bilder, die auf sie einstürzen wollten. Sie machte Anstalten, zu den beiden zu gehen, als sie reglos stehen blieb.
Cristiano und Alexander beugten sich über die Qualle, beide Gesichter zeigten identische Mienen voller Faszination. Cristiano hielt den Jungen bei der Hand fest, damit die Neugier nicht doch noch Oberhand gewann und er die Qualle berührte.
In diesem Moment wurde Colleen zum ersten Mal in vier Jahren bewusst, dass sie nicht allein für die Sicherheit ihres Sohnes verantwortlich war. Oder für sein Glück. Es gab jemanden, mit dem sie diese Last teilen konnte. Zumindest für den Moment.
Die Erleichterung darüber war nahezu überwältigend.
12. KAPITEL
Die Flut rollte heran, verschlang Stück für Stück den Streifen Strand, auf dem Cristiano und Alexander herumtollten und nach Treibgut und flachen Steinen suchten. Da sie weder Eimer noch Schaufel dabei hatten, bauten sie keine Sandburg, sondern eine Insel, von einem breiten Graben umgeben. Cristiano war begeistert auf Alexanders Vorschlag eingegangen, eine Rennstrecke auf der Insel anzulegen, und jetzt planten sie konzentriert die Gestaltung der Strecke, mit Haarnadelkurven und geraden Abschnitten im Wechsel.
Als Cristiano sich aufrichtete, bemerkte er erstaunt, wie weit das Wasser schon an Land gekommen war. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Er, dessen Leben und Erfolg sonst von Sekunden und Sekundenbruchteilen bestimmt wurde, hatte völlig die Zeit vergessen, so sehr faszinierte es ihn, die Welt durch die Augen eines kleinen Jungen zu sehen.
„Meinst du nicht auch, wir sollten zu deiner mamma zurückkehren?“
Also gingen sie Hand in Hand zu den Felsen zurück, auf denen Colleen saß. Sie hatte die Knie angezogen, das Kinn aufgestützt und sah auf das Meer hinaus.
Cristiano war sich ihrer Nähe die ganze Zeit über bewusst gewesen. Das sollte ihn nicht überraschen, hatte er sich doch auch Tausende von Meilen entfernt ständig gefragt, was sie wohl gerade machte und wie es ihr ging …
Am Ende des Strandes schmiegten sich graue Steinhäuser in den Klippenhang, dahinter öffnete sich das Moor. Schafe weideten auf den Wiesen, abgegrenzt durch unebene Steinmauern.
Sicherlich nicht die Amalfi-Küste, dachte Cristiano. Dennoch konnte er sich der rauen Schönheit nicht entziehen. Die Stille drang einem tief ins Herz, wie ein Ruf, der lockte, hierher zurückzukehren. Nie würde man der See mit ihrem ewig wechselnden Farbspiel müde werden, nie der vom Wasser hereinziehenden Wolken, die ihre Schatten über das Land warfen.
Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, als ihm klar wurde, dass es nicht die Landschaft war, die ihn lockte.
Alexander blieb stehen und bückte sich, ohne Cristianos Hand loszulassen, nach einem Stein im Sand.
„Ist das ein
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