Die letzte Schoepfung
den Deckel ab und wappnete sich gegen den Anprall der Trauer. Doch als sie den Inhalt betrachtete, stellte sich stattdessen eine bitter-süße Schwermut ein. Zögernd berührte sie einen Gegenstand nach dem anderen: das blassblaue Fotoalbum, an dem die Babyschühchen hingen; das winzige Namensarmband aus Plastikperlen, das ihm im Krankenhaus umgelegt worden war; sein erstes selbst gemaltes Bild, das er aus dem Kindergarten mitgebracht hatte – eine Mama, ein Papa und ein kleiner Junge unter einer hell strahlenden Sonne; ein paar Seiten, auf denen sanfte, junge Lehrerinnen über die Fortschritte ihrer kleinen Schützlinge berichteten; und schließlich die hellblonde Locke vom ersten Haarschnitt, die von einem dunkelblauen Band zusammengehalten wurde.
Tränen strömten über Sydneys Wangen, und sie wischte sie fort.
Wie sehr sie ihn vermisste! Warum waren in dieser Kiste nicht mehr Erinnerungen an einen kleinen Jungen? Sie wünschte, noch alte Hefte und Stundenpläne zu finden, vielleicht eine abgerissene Eintrittskarte zu einem Baseballspiel. Wäre Nicky größer geworden, hätte er ihr vielleicht eine selbst gemalte Karte zum Muttertag geschenkt oder einen Lieblingsstein, den er nur für sie ausgesucht hätte. Inzwischen wäre er in der vierten Klasse, und unter den Andenken wären auch Sportpokale oder Schulpreise oder einfach noch mehr Fotos, die den Weg eines Kindes zum Jugendlichen gezeigt hätten. Aber das alles gab es nicht. Ihr Sohn war gestorben, bevor er diese Erfahrungen machen durfte.
Die Qual erstickte sie beinahe. Im Hals schmerzten die unterdrückten Tränen. Er war so jung, so lebendig gewesen.
Warum?
Tausende Male, Millionen Mal hatte Sydney sich diese Frage in den Tagen nach dem Unfall gestellt. Niemand sollte so etwas erleiden müssen. Keine Mutter sollte ihr Kind begraben müssen. Doch sie hatte diese bittere Erfahrung gemacht. Sydney konnte sich nicht damit abfinden; sie musste den Grund dafür erfahren.
Sie ballte die Fäuste, als könne diese Geste sie davor bewahren, in Stücke zu zerspringen. Sie rang um Fassung. Dass es keine Antwort gab, wusste sie. Ihr Sohn war tot. Vielleicht würde sie es nie ertragen können, aber sie musste lernen, damit zu leben.
Wieder wischte sie sich die Tränen ab. Sie war entschlossen, sich dem Schmerz zu stellen, im Leben weiterzukommen, wie Charles sie gedrängt hatte. Zitternd griff sie nach einem Umschlag mit Fotos, die sie ursprünglich in ein Album kleben wollte. Das würde sie nun nie mehr tun. Sie hätte es nicht ertragen, ein Fotoalbum in Reichweite zu haben, sodass sie ständig an ihren Verlust erinnert wurde.
Als Sydney den Umschlag ergriff, fiel irgendetwas auf den Boden des Kartons. Verdutzt starrte sie auf den Silberring. Sie hatte ganz vergessen, dass sie ihn behalten und zusammen mit den Erinnerungen an Nicky in dem Karton verstaut hatte. Langsam legte sie den Umschlag beiseite und nahm den Ring in die Hand.
Ethans Ring.
Auch dieser Ring besaß die Macht, Schmerz zuzufügen. Sydney entsann sich, wie Ethan ihr den Ring auf den Finger gesteckt hatte. Es war an einem wunderschönen Tag im April gewesen, und sie kannten einander erst einen Monat. Sie hatten einen Picknickkorb in die Hügel westlich von Austin mitgenommen und sich zum ersten Mal in einem Kornblumenfeld geliebt.
Später, auf dem Heimweg, hatten sie einen Kunsthandwerkermarkt besucht und waren Hand in Hand zwischen den Buden und Ständen umhergeschlendert. Sydney konnte sich nicht mehr erinnern, was sie an den Schmuckstücken aus Silber und Türkisen so sehr begeistert hatte. Auf einer Webmatte, hinter der ein alter Mann saß, lagen preiswerte Stücke, die sich in nichts von denen anderer Händler unterschieden. Doch als Ethan niederkniete, um sie zu begutachten, zog der Alte plötzlich einen kleinen Lederbeutel aus dem Hemd und ließ ihn und Sydney hineinschauen. In dem Beutel lagen zwei zueinander passende Silberringe mit einer wunderschönen, komplizierten Gravur. Ethan hatte beide Ringe auf der Stelle gekauft und einen über Sydneys Finger gestreift.
Die Erinnerung brachte neue Tränen.
Es war eine törichte, doch in ihrer Spontaneität wundervolle Geste gewesen. Und typisch für Ethan. Er war kein Mensch, der groß plante, während Sydney dazu erzogen war, Regeln immer strikt einzuhalten.
Bevor sie Ethan kennen lernte, war ihre Zukunft klar vorgezeichnet gewesen. Sie war damals fünfundzwanzig und hatte ihr Medizinstudium fast abgeschlossen. Ein paar Jahre noch, und
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