Die letzte Schöpfung
stieg Zorn in ihr auf. »Und?«
»Jemand hat es ein paar Mal versucht, aber immer wieder aufgelegt.« Er streifte sein Jackett über.
Sie nickte erschöpft.
»Nimm ein Bad«, schlug er vor und küsste sie auf die Wange, bevor er sich zur Tür wandte. »Ich hol dir dein Abendessen.«
Sydney sah ihm nach. Er meinte es gut, machte sich Sorgen um ihren langen Arbeitstag und wollte alles für sie erledigen. Es war nicht seine Schuld, dass sie lieber alles selbst in die Hand nahm. Mit der Zeit würden sie schon zu gegenseitigem Verständnis gelangen, einen Kompromiss schließen zwischen seinem Wunsch, sich um Sydney zu kümmern, und ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit.
Was ihr jedoch Kopfzerbrechen bereitete, war sein Vorwurf, sie käme im Leben nicht voran. Sicher, sie war nicht bereit, sich in eine neue Ehe zu stürzen, und sie wollte auf keinen Fall noch einmal ein Kind – aber sonst? War sie in ihrem Leben denn nicht weitergekommen? War es im Laufe der letzten Jahre nicht genau darum gegangen, dass sie lernen musste, ohne Nicky zu leben? Ohne Ethan?
Langsam ging sie ins Schlafzimmer, zog die Jacke aus und ließ sie aufs Bett fallen. Der Kampf war sehr schwer gewesen, doch sie hatte ihn überstanden, obwohl sie beinahe aufgegeben hätte. Eine Zeit lang war es unglaublich anstrengend für sie gewesen, auch nur aufzustehen und sich einem neuen Tag zu stellen. Oft hatte sie sich gefragt, ob es nicht ihre Wut auf Ethan war, die ihr geholfen und sie vorangetrieben hatte, bis die Wunden allmählich zu heilen begannen.
Der erste Schritt im Heilungsprozess war die Aufgabe ihrer Kinderarztpraxis. Da sie nicht mehr fähig war, den unablässigen Strom kleiner Patienten zu ertragen, hatte sie einen Job in der Forschung angenommen und war überrascht, wie sehr die Arbeit im Labor ihr lag. Die Hauptsache jedoch war, dass diese Arbeit ihr einen Grund gab, morgens aufzustehen, um etwas zu tun. Eines Abends fiel ihr plötzlich auf, dass sie den ganzen Tag weder an ihren Sohn noch an ihren Exmann gedacht hatte, und sie hatte erkannt, das sie einen neuen Sinn für ihre Existenz gefunden hatte.
Die Braydon Labs hatten ihr das Leben gerettet.
Einige Zeit später lernte sie Charles auf einer Sponsorenparty kennen, und ihr Leben nahm eine erneute Wendung. Im Laufe der nächsten Monate kamen sie und Charles sich bei etlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, Diners in teuren Restaurants und Theaterabenden immer näher.
Als er sie zum ersten Mal bat, seine Frau zu werden, war sie nicht einmal überrascht. Charles war in jeder Beziehung das Gegenteil von Ethan: zuverlässig, rücksichtsvoll, verantwortungsbewusst. Und wenn ihrer Beziehung auch jene Leidenschaft fehlte, die Sydney mit Ethan erlebt hatte – umso besser. Sydney hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass man Gefühlen, die nicht auf gemeinsamen Interessen oder Kameradschaft beruhten, nicht trauen durfte. Mit Charles fühlte sie sich wohl und war damit zufrieden.
Und doch hatte sie stets etwas davon abgehalten, seinen Heiratsantrag anzunehmen. Sie hatte ihm und sich selbst eingeredet, dass sie noch nicht bereit sei. Sie brauchte mehr Zeit – und Charles hatte Geduld bewiesen, das musste man ihm zugestehen. Heute Abend hatte er ihr zum ersten Mal vorgeworfen, sie ließe die Vergangenheit nicht los.
Sydney knöpfte ihre Bluse auf und warf sie neben die Jacke aufs Bett. Hatte Charles Recht? Vielleicht hatte sie die Vergangenheit doch nicht so gut überwunden, wie sie glaubte. Aus ihrem begehbaren Schrank holte sie den kleinen Schemel, den sie benutzte, um an die oberen Fächer zu gelangen. Sie hob einen großen Karton herunter und trug ihn zum Bett.
Als sie endlich aus den Abgründen ihrer Depression aufgetaucht war, hatte sie sämtliche Andenken fortgeworfen, die sie an den Verlust erinnerten. Sie hatte das Haus verkauft, die Praxis aufgegeben, Nickys Kleidung, die Möbel und sein Spielzeug verschenkt. Nur sehr wenig hatte sie behalten, darunter ein einziges Foto von Nicky, das im Wohnzimmer stand – und diesen Karton.
Ein paar Minuten lang konnte Sydney sich nicht überwinden, ihn zu öffnen. In diesem Karton war alles, was vom Leben ihres Kindes übrig geblieben war, und so lange sie es nicht anrührte, konnte sie den Schmerz im Zaum halten. Doch nun ging es darum, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. Sie musste sich der Erinnerung stellen oder weiterhin in Kauf nehmen, dass die Vergangenheit ihr Leben überschattete.
Mit zitternden Händen hob Sydney
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