Die letzte Schöpfung
sie würde ihre eigene Praxis aufmachen. Und da platzte Ethan in ihr Leben und veränderte es von Grund auf.
Er war anders als alle Männer, die sie bis dahin gekannt hatte: an der Oberfläche sanft und zuvorkommend, darunter jedoch lauerte eine Wildheit, die nach Lederjacken und Motorrädern roch. Sie hatte einfach keine Chance gegen ihre Gefühle gehabt.
Es war schon seltsam, dass eine junge Frau, die stets einen so geraden Weg gegangen war, mit einem Mal alle Ideale über Bord warf. Doch sie hatte es getan. Zum ersten Mal im Leben wollte sie etwas anderes als den Studienabschluss in Medizin. Sie wollte Ethan Decker.
Sydney hielt den Ring ins Licht, las die Inschrift.
Für immer und ewig. Ethan.
Doch das war eine Lüge gewesen. Als sie Ethan am meisten brauchte, hatte er sie im Stich gelassen. Sie hatten ihren Sohn an einem sonnigen Morgen begraben, und am gleichen Abend war Ethan verschwunden…
Dieses Mal kamen die Tränen ungebeten. Sydney wollte nicht um Ethan weinen, doch die Tränen strömten ihr heiß über die Wangen, und einen Augenblick war sie fast blind.
Charles hatte Recht. Sie musste mit ihrem Leben weitermachen, musste wieder vorankommen. Sie hatte sich an der Vergangenheit festgehalten wie an diesem kleinen Reif aus Silber. Nie mehr. Den Ring fest in der Hand, ging sie zur Tür.
Sie hatte Ethan bedingungslos geliebt, aber er hatte sie und die Erinnerung an ihren Sohn an dem Tag betrogen, als er sich aus dem Staub machte. Sydney stellte den Alarm ab, ging aus der Wohnung und über den Flur zu dem Raum, in dem der Müll entsorgt wurde. Als ihre Hand schon auf dem Griff des Müllschluckers lag, zögerte sie einen Augenblick.
Ethans Ring.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, zog sie die Klappe auf und warf den Ring hinein, hörte, wie er klirrend durch den Metallschacht zwölf Stockwerke abwärts fiel, bis er im Container landete.
Ethan hatte seine Wahl getroffen, als er nicht mehr Teil ihres Lebens sein wollte. Allmählich musste sie das akzeptieren.
4.
Danny beobachtete den Habicht, der über der Wüste kreiste.
Natürlich hatte er schon andere Vögel gesehen. Auf den San-Juan-Inseln gab es Reiher und Fischadler, sogar Seeadler brüteten dort. Doch dieser einsame Habicht auf der Jagd ließ Danny spüren, wie weit er von zu Hause entfernt war. Für einen Augenblick wünschte er, er könnte die letzten drei Tage ungeschehen machen und nach Haven Island zurückkehren. Dann aber erinnerte er sich an all die Lügen und Enttäuschungen und wusste, dass eine Rückkehr nicht möglich war.
Außerdem gefiel es ihm hier.
In der Schule hatten sie etwas über Wüsten gelernt, doch die Wirklichkeit war mit dem langweiligen Unterricht überhaupt nicht zu vergleichen. Und die Insel war so anders gewesen; der feuchte, immergrüne Wald wurde vom Pazifik umschlossen. Hier aber gab es keine Grenzen. Der Sand schien sich bis ins Unendliche zu erstrecken. Farben gab es so gut wie keine, außer am Himmel. Danny konnte sich nicht entsinnen, je ein solches Blau gesehen zu haben.
»Glaubst du, er holt Anna noch ein?«
Danny drehte sich zu seiner Schwester um. »In seiner alten Klapperkiste? Keine Chance.« Er holte seinen Rucksack und setzte sich auf die Wohnwagentreppe. »Wie geht's dir jetzt?« Callie sah schon wieder besser aus, doch er musste auf sie Acht geben. Sie wurde oft krank. An dem Tag, als sie ausgerissen waren, hatte sie noch einmal zu Dr. Turner gemusst. Danny machte sich Sorgen, dass Callie irgendeine Krankheit ausbrütete.
»Ganz gut.« Sie nahm noch einen Kräcker aus dem Paket und reichte es ihm. »Was hältst du von ihm?«
»Von wem? Von Decker?«
Callie nickte. »Er wird doch zurückkommen, wenn er Anna nicht mehr einholt?«
»Wahrscheinlich.« Danny suchte in seinem Rucksack nach dem Gameboy, den Anna ihm gekauft hatte. »Spielt aber keine Rolle, ob er zurückkommt oder nicht.«
Nein, das stimmte nicht. Danny wusste, dass er Anna zwar nicht trauen konnte, aber er wusste auch, dass sie ihn und Callie nicht zurück auf die Insel schicken würde. Bei Decker war er sich da nicht so sicher. Es war ziemlich deutlich, dass Decker keine Lust hatte, ein paar Kindern zu helfen. Was würde Decker tun, wenn er Anna nicht mehr einholte? Ob es ihn überhaupt kümmerte, was Danny und Callie wollten?
»Uns wird schon nichts passieren«, sagte er, um sich selbst und Callie zu beruhigen. »Die Wärter wissen ja nicht, dass wir hier sind. Wir können uns also ein bisschen ausruhen und dann zur
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