Die letzte Schöpfung
es im Grunde nicht auch sein Wunsch gewesen?
Nein. Nicht so.
In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel und fuhr herum, die Waffe im Anschlag. Ein kleiner dunkler Kopf tauchte hinter einem Felsblock neben der Steilwand auf. Langsam kam der Junge hinter dem Felsen hervor. Dann erschien auch seine Schwester. Die beiden kamen auf ihn zu.
Erleichterung durchflutete Ethan, gefolgt von einer Woge des Zorns. Er ging den Kindern entgegen, traf sie auf der Mitte des Weges.
»Was treibt ihr da, verdammt?«
Danny funkelte ihn wütend an. »Woher sollten wir wissen, dass Sie das sind? Ich fand es besser, wenn wir uns verstecken.«
Ein kluger Schachzug, aber das würde Ethan dem Rotzlöffel nicht auf die Nase binden. Außerdem wollte er jetzt einige Erklärungen hören. »Was ist eigentlich los?« Was konnten diese beiden über einen Mann wie Marco Ramirez wissen? Und welche Grenzen hatte Anna nicht überschreiten wollen? »Wer sucht nach euch?«
»Keiner. Anna hat uns gerettet«, sprudelte Callie rasch hervor.
»Vor Entführern«, fügte Danny hinzu. »Und sie hat versprochen, unsere Eltern zu finden.«
»Und dann hat sie sich verfahren…« Das Mädchen warf dem Bruder einen schuldbewussten Blick zu, als sie den Fehler bemerkte. Anna Kelsey hatte sich verfahren?
Danny versuchte es zu bemänteln: »Und deshalb ist sie hierher gekommen. Damit Sie ihr helfen.«
Was für ein Stuss, dachte Ethan, während er ihre ernsten Gesichter studierte. Einfallsreichtum und Mumm musste er ihnen zugestehen, Wahrheitsliebe hingegen nicht.
»Kommt jetzt!«, befahl er. Auf Erklärungen musste er später bestehen. »Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden. Später könnt ihr mir die Wahrheit erzählen.«
Ohne Widerspruch folgten die Kinder ihm zum Wohnwagen. »Haben Sie Anna gefunden?«, fragte Callie leise.
Ethan zögerte, schaute in die unglaublich blauen Augen des Kindes. Er brachte es nicht über sich, ihr die Wahrheit zu sagen. »Wir müssen uns beeilen«, drängte er stattdessen. »Wir haben vielleicht nicht mehr viel Zeit.« Wieder hielt er nach einem Aufblitzen von Metall Ausschau – oder nach einem anderen Anzeichen, dass Ramirez sie gefunden hatte.
»Anna ist tot, stimmt's?« Dannys Stimme klang völlig ausdruckslos.
Ethan drehte sich nach Danny um und war überrascht, als er die Lippen des Jungen zittern sah. Also war er doch nicht so tapfer, wie er die Welt gern glauben machen wollte. Für kurze Zeit hatte Ethan vergessen, dass Danny bloß ein Kind war, ein Junge, der sich alle Mühe gab, seine Schwester und sich zu beschützen.
Bloß ein Junge. Vielleicht elf, zwölf Jahre alt, ein paar Jahre älter als Nicky jetzt sein würde, wäre er am Leben geblieben. »Ja«, antwortete Ethan und zwang seine Gedanken, den schmerzlichen Weg zu verlassen. »Sie ist tot.«
»Haben Sie…«
»Nein.« Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. »Ich war es nicht. Aber der es getan hat, kommt vielleicht als Nächstes hier vorbei. Also müssen wir verschwinden.«
Danny zögerte.
»Du hast jetzt nur noch mich, mein Junge.« Ethan wappnete sich gegen die Furcht in den Augen des Kindes, die seinen lang begrabenen Vaterinstinkt weckte. »Ihr kommt mit mir, oder…« Er wies auf die öde Landschaft. »Oder ihr bleibt hier.«
»Danny.« Callie zupfte ihren Bruder am Ärmel. »Bitte. Mr. Decker wird uns helfen.«
Dannys Miene wurde sanfter. »Aber Callie, er ist…«
»Bitte, Danny, wir müssen mit ihm gehen.«
Ethan nahm an, dass der Junge das ebenso gut wusste, und drängte ihn deshalb nicht weiter. »Es gibt da etwas, das ich noch erledigen muss«, sagte er. »Inzwischen könnt ihr schon mal einige Sachen aus dem Wohnwagen holen. Ein paar Flaschen Wasser zum Beispiel – und nehmt an haltbaren Lebensmitteln mit, was ihr finden könnt.«
»Wohin fahren wir denn?«, wollte Danny wissen.
Ethan unterdrückte das Verlangen, den Jungen scharf anzufahren. Er ermahnte sich, dass Danny trotz seines zur Schau getragenen Mutes im Grunde verängstigt war. »Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Tut jetzt erst mal, was ich euch gesagt habe.«
Ohne sich umzublicken, machte Ethan sich auf den Weg zur Steilwand. Dort trat er durch einen engen, gut getarnten Eingang in eine kühle Höhle.
Schon vor Jahren, als er noch im Joch der Firma eingespannt gewesen war, hatte er erkannt, dass er einen Zufluchtsort für sich und sein Team brauchte, einen geheimen Schlupfwinkel, der ihnen allen als Treffpunkt dienen konnte, falls
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