Die letzte Schöpfung
den Blick fest auf Paul geheftet.
Vom plötzlichen Themenwechsel durcheinander gebracht, erkannte Paul die Frau zunächst nicht. Dann aber konnte er seine Überraschung kaum verbergen. »Das ist doch Anna Kent!«
Doch die Frau auf dem Bildschirm ähnelte in keiner Weise der Person, die er unter diesem Namen kannte. Statt des gewohnten schlichten Kostüms und des sorgfältig gebundenen Haarknotens trug sie eine schwarze Lederjacke und hautenge Jeans, die ihre langen Beine zur Geltung brachten. Die Kamera hatte sie während einer raschen Drehung des Kopfes erfasst, und die glatten schwarzen Haare flogen in der Bewegung mit. Sie strahlte Wildheit aus und eine Härte, die auch Cox besaß, Pauls unerbittlicher Fragensteller.
»Sie ist eine unserer Lehrerinnen«, sagte Paul.
»Wo hält sie sich zurzeit auf?«, fragte Cox.
Zuerst wollte Paul lügen, besann sich aber rechtzeitig. Wenn Cox fragte, wo Anna Kent steckte, wusste er bestimmt schon, dass sie verschwunden war. »Ich weiß es nicht.«
Cox starrte ihn finster an, doch Paul wusste, dass es richtig war, die Wahrheit gesagt zu haben. Er kannte nicht sämtliche Schachzüge in diesem Spiel, doch wenn Cox ihn bei einer Lüge ertappte, war es sofort vorbei.
»Miss Kent wohnt in der Personalunterkunft hier auf der Insel«, beeilte Paul sich zu erklären. »Als die Kinder heute Morgen vermisst wurden und wir den ganzen Stab versammelten, war sie nicht dabei. Aber es ist ihr freier Tag, deshalb nahmen wir an, dass sie aufs Festland gefahren ist…«
»Ihnen kam nicht in den Sinn, dass Miss Kent vielleicht mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte?«, fragte Morrow.
»Doch, ich habe daran gedacht«, gab Paul zu und versuchte vergebens, seine Angst nicht durchklingen zu lassen. »Dann aber sagte ich mir, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist.«
Morrow lachte auf.
Paul nahm den Blick von ihm, schaute kurz zu Cox und blickte dann wieder Morrow an. »Miss Kent hatte die besten Empfehlungen. Ihre Referenzen waren tadellos und…«, er zwang sich, Morrow fest in die Augen zu sehen, »… es war Ihr Büro, das sie hierher versetzt hat.«
Morrow starrte ihn eisig an. »Was wollen Sie damit sagen, Doktor?«
Paul zuckte wie unter einem Hieb zusammen. »Ich wollte nur…«
»Genug«, sagte Cox. »Mit einem Streit erreichen wir gar nichts.« Er warf Paul einen wütenden Blick zu und wandte sich dann an Morrow. »Machen Sie weiter. Erzählen Sie Dr. Turner den Rest.«
Morrows zustimmendes Nicken war kaum zu sehen, doch er wandte sich wieder dem Bildschirm zu und drückte ein paar Tasten. Neben Anna Kents Foto erschien eine Liste mit Daten. »Ihr richtiger Name ist Anna Kelsey.«
Paul überflog den Text. Die Worte sprangen ihn an, stachen wie spitze Nadeln der Furcht in sein Rückgrat. Söldnerin und Terroristin, Spionage und Kindesentführung.
»Wie Sie sehen«, bemerkte Morrow mit einer gewissen Belustigung in seiner ansonsten ausdruckslosen Stimme, »ist sie alles andere als eine Lehrerin.«
***
Als der nagelneue weiße Ford in einer Staubwolke vor seinem Wohnwagen hielt, versuchte Ethan hinter die getönten Scheiben zu blicken. An den meisten Orten wäre der Wagen nicht sonderlich aufgefallen, doch hier, im Ödland von New Mexico, wirkte er im dürren Gras wie eine Wüstenlilie. Um in die Umgebung zu passen, hätte der Fahrer besser einen rostigen Pick-up gewählt.
Wieder dachte Ethan flüchtig an seine Glock. Es sollte sie teuer zu stehen kommen, dass sie ihn holen wollten. Immerhin hatte die Firma ihn gemacht, geformt, hatte ihn gekauft und bezahlt, seit er alt genug war, eine Waffe zu halten. Für das Geld sollten sie wenigstens etwas geboten bekommen.
Nein, sagte Ethan sich im gleichen Atemzug. Du machst dir etwas vor.
Er selbst und sonst niemand war verantwortlich für seine Taten und das, was er geworden war.
Die Autotür wurde aufgestoßen, der Fahrer stieg aus. Ethan schnappte vor Überraschung nach Atem. Es war eine hoch gewachsene Frau mit straffem Körper; ihre Züge zeugten von einer Mischung asiatischer und europäischer Ahnen, von denen sie das jeweils Attraktivste geerbt hatte – ein klares, ebenmäßiges Gesicht, dichtes schwarzes Haar und einen sahnefarbenen Teint. Woher jedoch ihre Härte kam – eine Härte, die selbst den meisten Männern abging –, konnte Ethan nicht sagen.
Die Frau war Anna Kelsey.
Als Freunde konnte man sie nicht bezeichnen, doch früher waren sie Soldaten gewesen, Kameraden in einem Krieg, der keinen Namen
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