Die Letzte Spur
gewesen.
Sie bekam eine Gänsehaut auf den Armen und verließ rasch die Kajüte. Die Bilder, die vor ihren Augen aufstiegen, waren zu bedrückend, sie mochte sie nicht länger zulassen.
Als sie wieder auf dem Steg stand, schaute sie sich erneut um, aber niemand war zu entdecken als die Möwen, die unvermindert ihre jähen, scharfen Schreie ausstießen. Die ganze Zeit über hatte Rosanna die Möwen kaum mehr wahrgenommen, sie waren Teil der Landschaft, Teil dieses Tages geworden, aber auf einmal schrak sie zusammen, wenn sie sie hörte. Die Schreie der Möwen verstärkten das Gefühl völliger Einsamkeit, das über der Gegend lag. Trotz allem, was in den letzten Stunden geschehen war, hatte Rosanna den Tag als hell und sonnig empfunden, als einen freundlichen Vorfrühlingstag. Innerhalb weniger Minuten hatte er sein Gesicht verändert. Jetzt sah sie die kahlen Bäume, das kalte Blau des Himmels, die abweisend verschlossenen Fensterläden des Hauses, in dem der Bootsmann lebte. Keine Rauchsäule, die sich in den Himmel schraubte, keine Stimmen, keine Geräusche, die auf die Nähe von Menschen verwiesen.
Ich bin ganz allein hier, dachte sie.
Nein. Marc muss auch irgendwo sein .
Und auf einmal hatte sie Angst.
»Marc?«, rief sie erneut, aber ihre Stimme klang nun zaghaft und leise, und das lag nicht nur an ihrer Erkältung.
Sie lief über den Steg zurück und durchquerte den offenen Teil des Bootshauses. Sie rüttelte an der Tür, die in den Clubraum führte, aber die war fest verschlossen. Ob Marc auch hierzu noch immer einen Schlüssel besaß? Aber weshalb sollte er sich im Clubraum einschließen?
Jenseits des Zauns blieb sie stehen und starrte zum Parkplatz hinauf. Vielleicht war Marc inzwischen bei seinem Auto aufgekreuzt. Sie vermochte nichts zu erkennen. So schnell sie konnte, lief sie den Weg hinauf. Sie hatte stechende Schmerzen in der Brust, bei jedem Atemzug tat ihr die kalte Luft im Hals weh. Sie fror und war gleichzeitig am ganzen Rücken nass geschwitzt.
Marc befand sich weder im Auto noch irgendwo erkennbar in der Nähe. Rosanna blieb stehen, versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie verstand nicht, was los war. Er hatte nur rasch das Boot abdecken wollen. Vielleicht hatte ihn alle Energie verlassen, vielleicht hatte er plötzlich nicht weitermachen können. Er musste emotional heftig aufgewühlt sein.
Aber warum versteckte er sich dann vor ihr?
Weil ich seine größte Bedrohung darstelle .
Sie musste schlucken, weil die Angst mit einem Mal so heftig über sie hereinbrach, dass in Sekundenschnelle ihr Mund austrocknete und die Zunge zum Watteball wurde. Die ganze Zeit über hatte sie über ihre Enttäuschung, ihren Schmerz, den Verlust an Vertrauen nachgedacht, die Marcs Offenbarung in ihr ausgelöst hatte, aber ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass auch er sie nun zwangsläufig in einer anderen Position ihm gegenüber sehen musste. Bislang waren sie einerseits ein Team gewesen, das gemeinsam einer ungeklärten Geschichte nachging, auf derselben Seite stehend, am selben Strang ziehend. Wie sich herausgestellt hatte, hatte dies so nie gestimmt, es war auf Marcs Seite ein Vorgaukeln gewesen und auf Rosannas Seite eine Illusion.
Andererseits waren sie ein Liebespaar. Wieweit Marc dabei gespielt hatte, war noch nicht geklärt.
Aber nun kam etwas anderes hinzu: Marc konnte im Handumdrehen zu einem Mann werden, der von der Polizei verfolgt wurde. Und Rosanna war der Mensch, der die Jagd auf ihn auslösen konnte.
Sie hatten nicht darüber gesprochen, was nun weitergeschehen würde. Das Letzte, was er von ihr zu diesem Thema gehört hatte, war ihr Entschluss gewesen, Inspector Fielder anzurufen und ihm mitzuteilen, was sie wusste – zu diesem Zeitpunkt war das die Tatsache gewesen, dass Elaines Pass in Wiltonfield gefunden worden war, dass Jacqueline Reeve dort ein Boot besessen hatte und dass das Schiff am frühen Morgen des 11. Januar 2003 die Mapledurham-Schleuse passiert hatte.
Inzwischen wusste sie weit mehr. Und sie hatte nicht gesagt, dass sie ihr Wissen für sich behalten wollte. Tatsächlich hatte sie über diesen Punkt überhaupt noch nicht nachgedacht. Die Frage war, wieviel Angst hatte Marc vor ihr? Und zu welchen Mitteln würde er greifen, eine ihm drohende Gefahr abzuwenden?
»Quatsch!«, sagte sie laut. Gleichzeitig blickte sie sich nervös um, aber noch immer war niemand zu sehen.
Marc war kein Verbrecher. Elaines Tod war ein Unfall gewesen, auf den er kopflos und damit völlig
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