Die Letzte Spur
sehnte sich nach England, aber wenn sie ihm das sagte, hörte er nicht hin.
Sie vermisste ihren Beruf als Journalistin, aber wenn sie ihm das sagte, hörte er nicht hin.
Hätte ihn jemand gefragt, er hätte im Brustton der Überzeugung erklärt, dass seine Frau glücklich und ihrer beider gemeinsames Leben voller Harmonie war.
Rosanna wusste, dass es unklug war, an diesem Abend noch mit ihrem eigenen Anliegen herauszurücken, aber im Grunde blieb ihr keine andere Gelegenheit.
»Ich fliege ja morgen nach England«, sagte sie.
Dennis setzte sich wieder, schwenkte seinen Whisky im Glas sacht hin und her. »Ich weiß. Und ich weiß auch, du erwartest eigentlich, dass ich…«
Sie unterbrach ihn hastig. »Nein. Wirklich. Es ist schon in Ordnung, dass du hierbleibst.«
I hr Vater würde am Sonntag seinen 66. Geburtstag feiern, den ersten, seit er am Ende des vergangenen Jahres völlig überraschend Witwer geworden war, und das war der Grund für Rosannas Reise. Am Anfang hatte sie gewünscht, ihr Mann könnte sie begleiten, aber Dennis hatte wichtige Termine am darauffolgenden Tag geltend gemacht – vorgeschoben oder nicht, das ließ sich nicht überprüfen. Er mochte seinen Schwiegervater, aber er reiste nicht gern nach England. Beruflich ließ es sich nicht umgehen, aber privat vermied er es, wo immer er konnte. In den fünf Jahren ihrer Ehe war es Rosanna nicht gelungen herauszufinden, woher sein Unbehagen gegenüber seiner Heimat eigentlich genau rührte.
»Ich rufe deinen Vater am Sonntag natürlich an«, versicherte Dennis.
Rosanna holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser. »Du erinnerst dich doch bestimmt noch an Elaine Daw-son?«, fragte sie.
»Elaine Dawson?«
»Meine Freundin aus Kingston St. Mary… na ja, nicht direkt eine Freundin. Ihr Bruder ging in eine Klasse mit meinem Bruder. Sie war um viele Jahre jünger als ich.«
Er runzelte die Stirn. »Ist das nicht die Frau, die zu unserer Hochzeit damals kommen sollte, aber stattdessen verschwunden ist?«
»Spurlos verschwunden. Bis heute.«
»Ich erinnere mich. Dunkel. Ich kannte sie ja gar nicht.«
»Ich habe manchmal an sie gedacht in den vergangenen Jahren«, sagte Rosanna, »und mich gefragt, was wohl damals geschehen ist.«
Es war Dennis anzusehen, dass ihn das nicht im Geringsten interessierte. »Wahrscheinlich ist sie durchgebrannt«, meinte er, »und macht sich jetzt irgendwo ein schönes Leben. «
»Der Typ war sie eigentlich nicht. Die Polizei ging irgendwann allerdings auch davon aus, aber zwischendurch gab es in der Tat Vermutungen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.«
»Soweit ich noch weiß, saß sie doch in Heathrow wegen Nebel fest. Wer sollte sie denn auf einem derart belebten Flughafen ermorden oder verschleppen?«
»Sie ist mit einem Mann mitgegangen. Das kam irgendwie heraus. Ich meine, er hat sich sogar selber gemeldet. Er hatte ihr angeboten, bei ihm zu übernachten, weil keine Hotelzimmer mehr zu bekommen waren.«
»Und dieser Mann war in Wahrheit natürlich Jack the Ripper und hat sie …«
»Unsinn. Er hat damals geschworen, sie am nächsten Morgen wieder in die U-Bahn Richtung Flughafen gesetzt zu haben. Etwas anderes konnte ihm auch nicht nachgewiesen werden.«
»Dann stimmt wahrscheinlich meine Theorie«, meinte Dennis, »und sie lässt es sich irgendwo gutgehen.«
»Ich würde es ihr wünschen«, sagte Rosanna, und übergangslos fügte sie hinzu: »Ich soll eine Reportage über diesen Fall schreiben.«
Dennis ließ sein Glas sinken und starrte sie an. »Was sollst du?«
»Eigentlich nicht nur über diesen Fall. Nick Simon hat mich heute Morgen angerufen.« »Nick Simon?«
»Der Chefredakteur von Cover. Du weißt, der …«
»Ich weiß, wer Nick Simon ist. Der Typ, für den du mal gearbeitet hast. Was will der von dir?«
»Er plant eine Serie für seine Zeitschrift. Über Menschen, die spurlos verschwunden sind. Von denen man nie wieder gehört, die man aber auch nie tot aufgefunden hat. Die einfach … wie vom Erdboden verschluckt sind.«
»Aha. Und wie kommt er da auf dich? Du arbeitest seit fünf Jahren nicht mehr für ihn!«
Sie blickte ihren Mann nicht an. »Ich hatte ihm einmal gesagt, dass ich mich über den einen oder anderen Auftrag durchaus freuen würde. Daran hat er sich jetzt erinnert. Hinzu kommt, dass er von meiner Bekanntschaft mit Elaine Dawson weiß. Er hält mich offenbar für geeignet, die Serie zu schreiben.«
»Wir hatten doch vereinbart, dass du für einige Jahre
Weitere Kostenlose Bücher