Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
einbogen, war der Gehweg rappelvoll. So war es jeden Morgen, wenn wir zur Schule gingen. Und sich jeden Morgen durch das Gewühl kämpfen zu müssen, war megabeschissen. Gestresste Eltern von Grundschülern rammten einem ihre Kinderwagen in die Hacken und keuchten einem in den Nacken, während sie ihre Kinder zur Schule zerrten. Sechst- und Siebtklässler rempelten einen auf ihren Scooters an, und die älteren Jungs von der Highschool machten mit ihren gegenseitigen Beschimpfungen einen auf cool. Als könnten die reichen Privatschulkids sich dadurch in die Gangster aus Brooklyn verwandeln, die sie gern wären.
Auf diesem Teil der Prospect Park West spielte sich ein Großteil der Highschooldramen ab. Leute trennten sich, stritten sich, taten sich wieder zusammen. Und jedes Mal, wenn etwas richtig Schlimmes passierte– wie einmal, als George McDonnell einer Erstklässlerin aus Versehen mit seinem Rucksack die Nase blutig schlug, weil er auf dem überfüllten Gehweg hinter irgendeinem Idioten herrannte–, meldete Mrs Pearl sich als Allererstes über die Lautsprecheranlage, als hätte sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, alle zusammenzuscheißen.
» Fehlverhalten auf dem Weg zur Schule ist gleichbedeutend mit Fehlverhalten auf dem Schulgelände « , kreischte sie, als würde das uns alle dazu bringen, dass wir ihr zuhörten. » Sobald ihr euer Elternhaus verlasst, steht ihr unter der Aufsicht der Schule. Es werden keine Prügeleien geduldet, ebenso wenig grober Unfug mit Körperkontakt. Solches Verhalten wird gemäß der Grace-Hall-Schulordnung bestraft. «
Ich war zwar keine Expertin, aber für mich klang das schon fast so, als würde es gegen die Verfassung verstoßen. An dem Abend, nachdem ich das zum ersten Mal aus dem Mund von Mrs Pearl gehört hatte, habe ich versucht, wach zu bleiben, und auf meine Mom gewartet, um sie um ihre Meinung als Juristin zu bitten, doch als sie kam, war ich schon eingeschlafen.
» Aua! « , schrie ich, als wir noch einen Block von der Schule entfernt waren, und fasste mir an den Hinterkopf, wo mich etwas getroffen hatte.
Als ich aufblickte, lächelte Carter Rose mich an. Er zeigte mit dem Finger auf mich, dann rannte er in Richtung Schule. So flirten die Zehntklässler– indem sie einem eins überbraten.
» Hat Carter mir grade echt ’ne Kopfnuss verpasst? « , fragte ich mit klingelnden Ohren.
» Er steht auf dich. « Sylvia grinste, als wir zusahen, wie er zwischen den Leuten verschwand, die sich vor uns knubbelten. » Du solltest ihm eine Chance geben. Er ist total süß, und außerdem spielt er Lacrosse. Ihr zwei habt richtig viel gemeinsam. «
» Ich spiele Feldhockey. Das sind zwei total unterschiedliche Sportarten. Das weißt du doch, oder? « , sagte ich leicht genervt. Sylvia versuchte dauernd, mich mit irgendwelchen Typen zu verkuppeln, egal mit wem. » Carter ist wie ein überdrehter Hund– vielen Dank. «
» Ja, aber wie ein süßer überdrehter Hund. «
In den schlaksigen Jungen mit dem blonden Wuschelkopf und den hohen Wangenknochen waren alle Mädchen verknallt. Nur ich nicht. Ich wusste noch nicht so richtig, wer genau mein Typ war, aber Carter war es jedenfalls nicht.
» Nein, danke « , murmelte ich. » Wenn ich ’ne Kupplerin brauch, sag ich dir Bescheid. «
» Tu dir keinen Zwang an. « Sylvia zuckte die Achseln. Wir näherten uns den Stufen des Haupteingangs der Schule, vor denen die Leute in Trauben herumstanden.
Auf der obersten Stufe stand Will, der Wachmann, und winkte alle rein mit seinen dicken Händen. Als wir vor dem Pulk stehen blieben, packte Sylvia mich am Arm und zerrte mich zu den Sträuchern.
» Aua! Was soll das? «
» Tut mir leid « , sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ganz komisch, und sie sah sich in alle Richtungen um, als wollte sie sich vergewissern, dass uns niemand hörte. » Eigentlich wollte ich das geheim halten, aber ich halt’s nicht mehr aus. Ich muss es dir unbedingt erzählen. «
» Was musst du mir erzählen? « Eins musste ich ihr lassen, das war eine gekonnte Einleitung. Andererseits kannte ich Sylvia gut genug, um nicht zu viel zu erwarten. Sie konnte noch ein Drama daraus machen, wie einer sich die Schuhe schnürte.
» Ich hab ihn gestern gegrüßt. « Sie beugte sich noch dichter vor. » Und du rätst nicht, was passiert ist. «
» Von wem redest du überhaupt? « , fragte ich. Offenbar ging sie davon aus, dass ich wusste, wen sie meinte. Aber dann wurde ich misstrauisch. Sylvia führte sich
Weitere Kostenlose Bücher