Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
plötzlich auf, als wäre sie völlig durchgeknallt. Als ich sie das letzte Mal so erlebt hatte, war das ziemlich übel ausgegangen. » Du hast doch nicht schon wieder eine Ativan von deiner Mutter geschluckt, oder? Wenn ja, gehst du am besten gleich wieder nach Hause… «
» Ich hab nichts geschluckt! « , schrie Sylvia so laut, dass alle möglichen Leute, vor allem Mütter, sich nach uns umdrehten.
» Egal– tut mir leid « , murmelte ich. Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken, damit sie mich nicht wieder irgendwo hinzerren konnte. » Ich wollte dir nur helfen. «
» Ich brauch deine Hilfe nicht, okay? « , sagte sie. » Ich hab schon eine Mutter, hast du das vergessen? «
» Alles klar. «
So war Sylvia. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Sie sagte richtig gemeine Sachen über meinen nicht existenten Vater, über meine ewig abwesende Mutter. Kleine Waise Amelia, hatte sie mich sogar einmal genannt. So was machte sie immer dann, wenn sie das Gefühl hatte, man könnte sie verletzen. Es war nicht ihre beste Seite. Und manchmal schrie ich sie an, wenn sie so drauf war. Aber ich versuchte, ihr nicht übelzunehmen, was sie über meine Mutter sagte, weil ich insgeheim glaubte, dass sie neidisch war. Meine Mom war alles, was ich hatte, und sie war tatsächlich nicht viel zuhause, doch wir verstanden uns echt super. Und ich wusste, dass sie, wenn sie in der Arbeit war, eigentlich viel lieber bei mir gewesen wäre. Manchmal stritten wir uns wegen Blödsinn, aber ich spürte, dass sie mich liebte. Ganz tief drinnen. Sylvias Mutter, Julia, fand ich ziemlich cool. Trotzdem konnte Sylvia sie irgendwie nicht ausstehen. Ich hab eigentlich nie verstanden, warum.
» Ich wollte dir gerade was Wichtiges erzählen. « Sylvia war eingeschnappt. » Aber wenn’s dich nicht interessiert… «
» Doch, es interessiert mich « , sagte ich und ignorierte die Stichelei gegen meine Mutter. Sylvia war einfach so, sie konnte nichts dafür. » Los, erzähl schon. Bin ganz Ohr. «
Einen Moment lang schaute Sylvia sich mit zusammengezogenen Brauen um, als bestünde überhaupt keine Chance, dass sie mir ihr Geheimnis anvertrauen würde. Aber wem sonst sollte sie es erzählen?
» Also gut « , sagte sie schließlich und grinste mich verschmitzt an. » Ian Greene « , flüsterte sie. » Ich hab ihn gestern gegrüßt, und rat mal, was passiert ist? «
Sylvia war noch nie so scharf auf einen Typen gewesen wie auf diesen Ian Greene, und das wollte was heißen.
Eine Woche bevor die Schule anfing, hatten wir ihn zum ersten Mal gesehen. Wir lagen nebeneinander auf meinem Bett, mein Laptop auf meinen Knien und gingen das Meetbook von Grace Hall durch, das gerade ins Internet gestellt worden war. Ian Greene war neu. Und mit seinen unordentlichen Haaren und seinen dunklen, launischen Augen war er ein cooler Typ, keine Frage. Das sah sogar ich. Außerdem stand unter seinem Namen HAMPSTEAD HEATH , UK , was bedeutete, dass er einen britischen Akzent hatte. Und Hampstead Heath klang ziemlich vornehm. Richtig nobel. Womöglich war dieser Greene ein Spross der Königsfamilie.
» Red keinen Stuss « , hatte Sylvia gesagt, als ich entsprechende Vermutungen anstellte. Sie war schon mehrmals in England gewesen. » Hampstead Heath ist so was wie das Brooklyn von London, außer dass die da alle in megateuren Minischlössern wohnen. « Dann hatte sie mich angelächelt. » Aber man kann nie wissen, vielleicht ist er ja ein Graf oder so. «
Sylvia war nicht die Einzige, die wegen Ian Greene aus dem Häuschen geriet. Die Hälfte der Mädchen hatte ihn schon vor dem ersten Schultag im Visier. Und nachdem ich ihn leibhaftig gesehen hatte, musste sogar ich zugeben, dass er eine Menge zu bieten hatte. Er besaß eine natürliche Ausstrahlung, ein bisschen bad boy -mäßig, und ein schiefes Grinsen, dem man sich kaum entziehen konnte. Er spielte Gitarre und komponierte selber, sein eigentliches Talent war aber das Fotografieren; da kam er nach seinem Vater, dessen Bilder angeblich im MOMA hingen. Die Greenes waren hergezogen, weil Ians Mutter den Posten der Chefkuratorin des Brooklyn Museum übernommen hatte.
Ian hatte sich natürlich nicht lange lumpen lassen und die ganze Bewunderung, die ihm entgegenschlug, weidlich ausgenutzt. Andererseits wirkte die vollkommen selbstverständliche Art, mit der er jedes Mädchen flachlegte, irgendwie ziemlich zivilisiert.
» Willst du mich noch nicht mal fragen? « , drängte Sylvia, während ihr Blick zum Schuleingang
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