Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
wanderte.
» Was denn fragen? « Ich hatte vollkommen den Faden verloren.
» Was passiert ist, als ich ihn gegrüßt hab! « , schnaubte Sylvia und stampfte mit dem Fuß auf.
» Ach so, ja, klar. Was ist passiert? «
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. » Er hat mich nach Hause begleitet « , stieß sie schließlich hervor. » Und… « Sie schaute sich noch einmal um, aber der Auflauf vor den Stufen löste sich allmählich auf, weil die Leute– die, die pünktlich waren– angefangen hatten, ins Schulgebäude zu gehen. Sylvias Augen weiteten sich. Sie hielt sich eine Hand an den Mund. » Wir haben wie blöd geknutscht. «
» Echt? « , sagte ich, bemüht, beeindruckt zu klingen. In Wirklichkeit war ich irgendwie geknickt. Ich wusste nicht mal, warum. » Ist ja ein Ding! «
Eins musste ich Sylvia lassen. Sie übertrieb gern, doch das war wirklich der Hammer. Ian Greene hatte ein Mädchen an jedem Finger, aber er hatte sich für Sylvia entschieden, zumindest für einen Nachmittag und einen Kuss. Eigentlich wunderte es mich nicht, dass sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Jungs hatten schon immer auf Sylvia gestanden. Sie war hübsch und hatte die richtigen Kurven an den richtigen Stellen– aber das hatten viele Mädchen an der Schule. Sylvia hatte noch etwas anderes. Etwas Wildes. Das machte sie interessant und unberechenbar und sogar ein bisschen gefährlich. Genau das stieß die Jungs natürlich auch irgendwann ab. Schließlich besteht ein feiner Unterschied zwischen wild und durchgeknallt.
Wenn die Sache mit Ian also wichtig war, warum nervte es mich dann dermaßen, dass Sylvia so einen Affen darum machte? Gott, war ich etwa eifersüchtig? Nicht eifersüchtig darauf, dass sie Ian Greene geküsst hatte. Ich war eifersüchtig darauf, dass Sylvia Ian unbedingt hatte küssen wollen und es ihr gelungen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, für jemanden solche Gefühle zu entwickeln, und erst recht nicht, dass ich so was tatsächlich durchzog.
» Verrückt, oder? « Sylvia nickte und biss sich auf die Lippe. Sie wirkte richtig nervös. » Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, wenn ich ihm das nächste Mal über den Weg laufe. Soll ich so tun, als wäre nichts passiert? Wenn ich zu nett bin, denkt er, dass ich’s nötig hab. Aber ich will auch nicht, dass er mich für eine Zicke hält. « Es schien sie wirklich zu quälen. » Ich weiß ja, dass du eigentlich keinen Schimmer von so was hast, aber was meinst du– soll ich ihn anquatschen? «
» Hm. Du solltest ihm auf keinen Fall nachlaufen « , sagte ich. » Aber du solltest ihn auch nicht ignorieren. Ein Typ wie Ian würde das bestimmt bescheuert finden. «
» Also, das hilft mir kein bisschen, Amelia. Ich brauch genaue Anweisungen. « Ich wich zurück, als sie näher kam, weil ich Schiss hatte, sie würde mich wieder am Arm packen und herumzerren. » Du musst mir ganz genau sagen, was ich tun soll. «
» Du könntest schon mal damit anfangen, dass du tief durchatmest « , sagte ich. Der merkwürdige Eifersuchtsanfall war so schnell vorbeigegangen, wie er gekommen war. Jetzt musste ich Sylvia helfen, und zwar hundertpro. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, bis sie ein-, zweimal tief Luft geholt hatte. » Gut. Und vergiss eins nicht: Ian hätte dich nicht geküsst, wenn er dich nicht mögen würde. «
Sylvia schaute auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. Es wurde allmählich spät. Auf dem Gehweg trödelten nur noch ein paar Leute herum. Will stand immer noch vor der offenen Eingangstür, die er jeden Augenblick schließen würde. Und wenn sie einmal zu war, würden wir offiziell zu spät kommen. Ich könnte wahrscheinlich sechs Wochen lang am Stück zu spät kommen, ehe die Schule etwas unternehmen würde. Also versuchte ich so zu tun, als wäre es mir egal. Es war mir aber alles andere als egal. Vor allem, wo ich kein bisschen zu spät gekommen war.
» Aber was ist, wenn ich ihn geküsst hab? « , fragte Sylvia. » Ich meine, er hat mich nach Hause begleitet, und wir haben uns über Fotografie unterhalten, und dann haben wir noch eine Weile auf der Stufe vor unserer Haustür gesessen und über Musik und Mode geredet, und dann hab ich– einfach… « Sie schlug sich die Hand vor den Mund und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. » O Gott, ich glaub, ich hab’s tatsächlich getan. Ich hab ihn geküsst. «
» Aber er hat doch mitgemacht, oder? «
» Und wenn nicht in echt?
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