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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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längst nicht mehr wasserdicht waren, durch Schnee und Schlamm wateten. Wir wunderten uns selbst, wieviel wir aushielten. Noch ein halbes Jahr zuvor wären wir aus Schnupfen und Husten, aus Blasenkatarrhen und Halsentzündungen nicht herausgekommen, wenn wir uns nicht bei einer solchen Wanderung sogar eine Lungen- oder Rippenfellentzündung geholt hätten. Nicht einmal Jens wurde krank.
    Nur der Kinderwagen machte uns Schwierigkeiten. Es kostete uns einen ganzen Tag, bis wir für das kaputte Rad ein anderes aufgetrieben hatten - in einer Müllkippe, in der ganze Scharen von Leuten aus den umliegenden Dörfern wühlten.
    Wir kamen nur sehr langsam voran. Die Mutter, die früher im Wandern groß gewesen war, konnte nicht mehr schnell gehen. Das Neue war so schwer. Aber das, worauf der Vater und ich so sehr hofften, sagte sie trotzdem nie: »Ich kann nicht mehr. Laßt uns umkehren.«
    Der Vater hatte die Route über den Hohen Vogelsberg gewählt. Hier erhoffte er sich noch einigermaßen begehbare Wege, Unterkünfte für die Nächte und hin und wieder einen gastlichen Bauernhof mit einem Becher Milch oder einer Suppe mit ein paar Fettaugen. Aber bald wurde uns klar, daß wir wenig Hilfsbereitschaft begegnen würden. Denn nun, nachdem wir Schewenborn verlassen hatten, gehörten wir zu den Fremden, den Obdachlosen, den Bettlern, die durchs Land zogen. Wenn wir uns einem Haus näherten, schlossen sich die Türen, fingen Hunde an zu bellen, fiel unser Blick auf selbstgemalte Schilder:
    BETTELN ZWECKLOS, HABEN SELBER NICHTS!
    Ein paar Ortschaften hatten sich mit Stacheldraht umzäunt. Wachen standen an den Toren.
    »Bleibt weg«, riefen die schon von weitem. »Hier kommt keiner rein. Ihr habt uns den Typhus und die Ruhr eingeschleppt, das hat uns ein Drittel vom Dorf gekostet. Wir wollen keine Seuchen mehr. Wir legen jeden um, der mit Gewalt rein will. Tragt die Seuchen anderswohin, wenn man sie dort haben will. Uns reicht's.«
    »Vielleicht haben sie recht«, sagte der Vater. »Unser Pech ist, daß wir jetzt zu denen gehören, die außerhalb vom Zaun stehen.«
    Wenn wir nicht so im Elend gesteckt hätten, wäre es sogar ein schönes Wandern gewesen: ganz ohne Autos. Nur manchmal begegnete uns ein Pferde- oder Kuhgespann oder ein Fahrrad. Aber die Leute grüßten nicht mehr. Und das Unglück, dem wir begegneten, deprimierte uns: Hungernde aus den zerstörten Tälern kamen in die Berge, um sattzuwerden. Obdachlose bettelten um ein Zimmer, einen Platz im Heuschuppen. Kinder fragten uns, ob wir ihren Eltern begegnet seien. Kranke, Halbtote, Tote lagen am Straßenrand. Wir sahen bis auf die Knochen Abgemagerte, Krüppel, Wahnsinnige, Stumme, Blinde, Kahlköpfige und immer wieder Menschen mit den entsetzlichsten Brandnarben. Sie kamen uns entgegen, sie kreuzten unseren Weg, sie überholten uns oder wir überholten sie. Wir fragten sie aus, sie fragten uns aus. Man hätte meinen können, alles, was noch am Leben geblieben war, sei unterwegs und zöge planlos durch ganz Deutschland. Aber wir trafen auch Holländer, Tschechen, Belgier und Franzosen.
    Manche Leute wollten wissen, es sei immer noch Krieg. Aber wir stießen nirgends auf eine Front, nirgends auf Soldaten. Andere erzählten, der Krieg sei längst vorbei, wieder andere, es habe nie einen Krieg gegeben. Das Ganze sei ein Mißverständnis gewesen.
    Aber das zu glauben, weigerte sich mein Vater.
    Wir trafen Leute, die schleppten die verrücktesten Dinge mit, wie zum Beispiel die alte Frau mit der Alabasterfigur im Rucksack und der junge Mann mit dem Surfbrett. Da wurden Ölgemälde, Fernseher und Ladenkassen meilenweit geschleppt, manches zum Tausch angeboten, anderes als Andenken gehegt, wieder anderes als Grundstein für eine Existenz gewertet. Und einem begegneten wir, der hatte die ganze Brust voll Orden hängen, obwohl er unter der Jacke kein Hemd trug und vor Hunger kaum mehr aufrecht gehen konnte.
    Die meisten kamen uns entgegen: Leute aus der Wetterau, aus dem Spessart, aus der Aisfelder und Marburger Gegend, ja sogar aus dem Aschaffenburger Raum. Sie alle erzählten von Hunger und Seuchen und der entsetzlichen Strahlenkrankheit, die in den Gebieten rings um Frankfurt und im Kinzigtal, das die Frankfurter Wolke abbekommen hatte, kaum jemanden hatte überleben lassen.
    »Und Frankfurt selber?« fragte meine Mutter.
    »Gibt's nicht mehr. Auch kein Wiesbaden, kein Rüsselsheim, kein Höchst, kein Hanau und Offenbach. Trümmerhaufen und Asche bis zum Horizont, sonst

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