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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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paar Sekunden lang die Musik zu hören, bis sie mit einem komischen Seufzer verstummte.
    Die Schewenborner umringten den Wagen und wärmten sich an ihm und trugen Glut heim. Noch tagelang sprach man in der Stadt - wenn man überhaupt sprach - über nichts anderes als das Auto und die Musik.
    »Ein schöner Tod«, sagte mein Vater. »Ein klassischer Tod für einen Autofan.«
    Auch meine Mutter konnte nicht mehr klar denken. Sie wollte plötzlich fort aus Schewenborn. Sie fing immer wieder davon an.
    »Aber wo sollen wir denn hin?« fragte mein Vater. »Noch dazu jetzt im Winter?«
    »Wohin?« rief meine Mutter hitzig. »Natürlich nach Bonames!«
    »Ich glaube, du spinnst«, sagte der Vater ärgerlich. »Bonames ist ein Teil von Frankfurt, und Frankfurt ist weg. Kannst du das nicht begreifen, Inge?«
    »Bonames liegt ein ganzes Stück außerhalb«, sagte die Mutter. »Und unsere Straße liegt mit der Frontseite nicht zum Stadtzentrum hin. Wir haben eine Eigentumswohnung, Klaus. Sie gehört uns! Die kann man doch nicht so einfach aufgeben! Irene Kellermann ist zuverlässig, die hat auf sie aufgepaßt wie ein Wachhund!«
    »Aber Inge -«, sagte der Vater.
    »Dort haben wir den Keller voller Vorräte, dort haben wir alle unsere Wintersachen, dort gibt es sicher schon längst wieder Strom und Wasser -«
    »Inge«, rief der Vater und schüttelte sie, »komm doch zu dir! Du träumst. Willst du das Neue in einem Aschenhaufen zur Welt bringen?«
    »Soll es etwa hier zur Welt kommen, wo wir entweder im Dunkeln ersticken oder im Hellen erfrieren? Wo wir am Verhungern sind? Wo wir nur Trümmer sehen, wenn wir aus der Haustür schauen? Wo es nach Aas und verbranntem Menschenfleisch stinkt? Ist das die Welt, die wir dem Neugeborenen bieten wollen?«
    »Es gibt wahrscheinlich nirgends mehr in Europa eine Welt, die man einem Neugeborenen guten Gewissens bieten könnte«, sagte der Vater. »Aber hier wissen wir, was wir haben: ein Dach über dem Kopf, Großvaters und Großmutters vollen Kleiderschrank, einen Herd und Holz zum Heizen. Begreifst du nicht, daß wir noch unglaublich gut dran sind im Vergleich zu den meisten anderen? Wenn du es schaffst, das Neue während der ersten Monate zu stillen, hätte es durchaus Chancen zu überleben.«
    »Wie soll ich stillen können, so mager, wie ich bin?« rief sie. »Schon bei Kerstin habe ich nach drei Wochen zufüttern müssen.«
    »Damals hast du dich gegen das Stillen gewehrt, wegen der Figur. Jetzt aber geht's ums Ganze. Du mußt stillen! Du mußt mehr essen. Und du mußt alles viel positiver sehen.«
    »Kernmeyers haben noch Milchpulver«, sagte ich. »Für eine Säge oder eine Axt gäben sie vielleicht was her -«
    »Was nutzt mir Milchpulver?« fragte die Mutter. »Hoffnung brauche ich. Ohne Hoffnung kommt das Kind gar nicht erst lebendig auf die Welt. In Bonames wird sicher schon wieder einigermaßen Ordnung herrschen. In so einer dichtbesiedelten Gegend wie dem Rhein-Main-Gebiet muß man Ordnung in das Chaos bringen können. Dort gibt es sicher fähige Leute, die Unmögliches möglich machen. Und wenn's nur ein Viertelliter Milch pro Tag und Person gibt und wenn man nur fünfhundert Gramm Brot pro Woche bekommt - man kann dann wenigstens mit einem festen Minimum rechnen, so wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg. Unsere Eltern haben uns doch oft genug davon erzählt, so oft, daß ich's gar nicht mehr hören wollte. Wenn's auch lächerliche Mengen sind - aber man hat ein Recht darauf, verstehst du, was das heißt? Hier dagegen lauert nur jeder darauf, wie er dem anderen etwas wegnehmen kann. Rund um die Uhr muß man Mißtrauen haben!«
    »Nicht nur hier«, sagte der Vater müde. »So wird es überall sein, wo noch jemand überlebt hat.«
    »Aber das halte ich nicht aus!« rief die Mutter. »Daran gehe ich kaputt! Und das Kind mit mir, Klaus. Laß uns nach Bonames zurückkehren, bitte - bevor wir hier zugrunde gehen -«
    Tagelang bettelte sie, und tagelang suchte der Vater nach neuen Argumenten, um sie zu überzeugen. Aber sie hörte ihm gar nicht mehr richtig zu.
    »Kein Mensch weiß genau, ob Frankfurt weg ist«, sagte sie. »Was wir gehört haben, ist doch nichts Offizielles. Alles Gerüchte. In solchen Elendszeiten werden in den Gerüchten alle Katastrophen zu immer noch schrecklicheren Katastrophen aufgebauscht. Das haben schon meine Eltern im letzten Krieg erfahren.«
    »Um diese Katastrophe noch mehr aufzubauschen«, antwortete ihr der Vater, »reicht die menschliche Phantasie

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