Die letzten Kinder von Schewenborn
Schultertasche mit unseren Papieren und dem Geld, das wir noch besaßen.
»Warum nimmst du das Geld mit?« hatte mein Vater gefragt.
»In Bonames kann man sicher schon wieder etwas damit anfangen«, hatte sie gemeint.
Da hatte er sie gewähren lassen und nur den Kopf geschüttelt.
Frau Kramer stand mit ihrem Pflegekind an unserer Tür, als wir fortgingen. Der Vater hatte sie gebeten, in das Haus unserer Großeltern zu ziehen und es zu hüten.
»Nur so lange wir weg sind«, hatte er immer wieder betont, »damit sich keine Obdachlosen hier einnisten oder das Haus ausplündern.«
Frau Kramer hatte den Winter über mit Mackenhäusers, bei denen sie untergekommen war, in einem Raum hausen müssen. Mit denen hatte sie dauernd Streit gehabt, vor allem wegen des Kindes. Kein Wunder, daß sie jetzt überglücklich war, in unser Haus ziehen zu können. Da gab es einen Herd und Holz und noch ein paar Kartoffeln und Rüben im Keller. Sie tat zwar, als bräche ihr beim Abschied das Herz, aber ihre Freude konnte sie kaum verbergen.
Ich traute ihr nicht.
»Warum hast du mich nicht das Haus hüten lassen?« fragte ich den Vater, als wir nach mühsamen Kraxeleien über Trümmerhaufen endlich die Straße nach Lanthen hinaufkeuchten.
»Darüber habe ich auch nachgedacht«, antwortete er. »Aber es wäre mit dem Gepäck schwierig geworden. Und es ist besser, wenn wir zusammenbleiben, egal, was kommt. Wir haben ja niemanden mehr als uns.«
Trotz unseres Gepäcks kamen wir schneller voran als die Mutter. Die hatte schon einen starken Leib. Es fehlten ja nur noch zwei Monate. Ende März, Anfang April sollte das Neue zur Welt kommen. Sie keuchte hinter uns den Hang herauf.
»Was für ein Wahnsinn, was für ein Wahnsinn«, stöhnte der Vater so leise, daß sie es nicht hören konnte.
»Was glaubst du, wann wir wiederkommen?« fragte ich ihn ebenso leise.
»Ich hoffe, daß sie bald umkehren wird. Sie kann das ja nicht durchhalten. Vielleicht in einer Woche, vielleicht auch schon heute.«
Aber er sollte sich täuschen. Sie wanderte weiter, ohne zu klagen. In Gedanken versunken, mit gebeugtem Kopf schritt sie dahin. Manchmal, wenn es Jens im Wagen nicht mehr aushielt, nahm sie ihn an die Hand, ließ ihn mitlaufen und sprach mit ihm. Er war ihr Vertrauter. Ihm erzählte sie von unserer Wohnung in Bonames. Ihm sagte sie auch, daß das Neue Jessica Marta oder Boris Alfred heißen sollte. Die zweiten Namen waren die von Großmutter und Großvater.
Wir kamen an der Stelle vorbei, wo wir am Bombentag unseren Wagen stehengelassen hatten. Die Fichte lag noch immer quer über der Straße, und unser Wagen stand verschneit neben ihr. Er hatte sogar noch seine Reifen. Wozu hätte sich auch jemand die Mühe machen sollen, sie abzumontieren? Die Türen waren zugefroren.
Ich preßte die Nase an die Scheibe im Fond und hauchte gegen die Eisblumen, Als sie schmolzen, konnte ich ins Innere sehen. Ich erkannte zwei Kinder, die mit hochgezogenen Knien auf dem Rücksitz kauerten, eng aneinandergeschmiegt, das eine den Kopf auf der Schulter des anderen: zwei kleine Mädchen. Ich kannte sie. Es war die Blinde aus dem Schloßkeller und die mit dem kaputten Gesicht, die ich immer mit ihr zusammen gesehen hatte. Sie hatten die Augen geschlossen.
»Da drin schlafen zwei Kinder«, flüsterte ich dem Vater zu. Verwundert schaute er durch das Loch im Eis. Dann sah er mich bekümmert an: »Die schlafen nicht. Die sind tot. Erfroren.«
»Meinst du nicht, wir könnten mit dem Wagen ein Stück weiterkommen?« fragte die Mutter, als sie uns eingeholt hatte. »Wenigstens bis zum nächsten Baum hinter Wietig -?«
»Aber Inge«, sagte der Vater.
»Na gut«, seufzte sie ergeben, »dann wandern wir eben weiter.«
Jens rannte zum Auto und wollte hineingucken. Aber wir setzten ihn schnell in den Kinderwagen und schoben ihn fort.
Auf der vereisten Straße hinter Wietig im Wald rutschte die Mutter zweimal aus. Aber sie hatte Glück, sie fiel beide Male seitwärts in aufgetürmten Schnee. Hinter Lanthen übernachteten wir in einem überdachten Viehunterstand neben einer Koppel.
Ob wir's auch Glück nennen sollten, daß schon am nächsten Tag Tauwetter einsetzte, wußten wir nicht. Es hielt ein paar Tage an. In der ganzen ersten Februarhälfte blieb die Temperatur über dem Gefrierpunkt.
Wir waren bereits zu abgehärtet, um bei solchem Wetter zu erfrieren, auch wenn wir manchmal in offenen Feldscheunen und in feuchten Schlafsäcken übernachteten und in Schuhen, die
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