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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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nichts.«
    »Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?« fragte die Mutter.
    »Mit eigenen Augen? Ich werde mich hüten. Die Gegend dort ist doch ganz verseucht. Da geht keiner freiwillig hin. Aber jeder weiß, daß das Rhein-Main-Gebiet tot ist. Dort rührt sich nicht mal mehr eine Kakerlake.«
    »Siehst du?« sagte die Mutter später zum Vater. »Alle behaupten es, niemand weiß es genau.«
    Solche Gespräche gab es am Tag zwei- bis dreimal. Und die Mutter wurde nicht müde, alle, die uns entgegenkamen, zu fragen, woher sie seien.
    »Wenn Sie einem Frankfurter begegnen wollten, müßten Sie einem Toten begegnen«, sagte ein Friedberger, ärgerlich über ihre Hartnäckigkeit. »Schon von Friedberg ist ja kaum etwas übriggeblieben, obwohl wir doch fast dreißig Kilometer von Frankfurt entfernt liegen.«
    Da schwieg die Mutter und kam kaum mehr vorwärts. Aber bis zum nächsten Morgen hatte sie alles, was sie nicht hören wollte, wieder verdrängt und vergessen und wanderte, so schnell sie konnte, auf Frankfurt-Bonames zu.
    »Der beste Beweis ist doch, daß wir bisher noch niemandem aus Bonames begegnet sind«, sagte sie. »Wenn Bonames kaputt wäre, müßten sich doch Bonameser hier herumtreiben!«
    »Denk an Fulda«, sagte der Vater erschöpft. »Kam auch nur ein einziger Fuldaer nach Schewenborn, der sich am Bombentag in Fulda aufgehalten hatte?«
    Darauf wußte sie nichts zu erwidern.
    Es war totz allem gut, daß der Vater den Weg über den Hohen Vogelsberg genommen hatte. Hier hatte man die Hunde noch nicht aufgegessen, und es gab Dörfer, in denen so gut wie keine Fensterscheibe fehlte. Kein Schutt lag herum, die Straßen waren nicht von umgestürzten Bäumen versperrt, und manche einsamen Ortschaften waren sogar vom Typhus verschont geblieben. Ab und zu gerieten wir an Bauern, die von dem Elend, das an ihrer Tür vorüberzog, noch nicht abgestumpft waren.
    Wir brauchten achtzehn Tage bis in die Wetterau hinunter. Wir hätten die Strecke in kürzerer Zeit geschafft, aber der Vater drang darauf, daß die Mutter oft rastete, früh schlafen ging und morgens so lange wie möglich schlief.
    »Sie darf nicht zu schwach werden«, sagte er zu mir. »Sie wird dort unten noch viel Kraft nötig haben, und dann muß sie den ganzen Weg wieder zurückwandern.«
    Dreimal schliefen wir in Viehunterständen, achtmal ließen uns Bauern in ihrer Scheune schlafen, einmal gab uns eine Arztwitwe sogar eine heizbare Stube, fünfmal übernachteten wir in Obdachlosenquartieren und einmal in einer Grillhütte im Wald. Dann waren wir in der Wetterau. Wir hatten sparsam von unseren Vorräten gelebt. Die Rucksäcke waren schlaffer, aber nicht leer geworden. Dann und wann hatten wir bei Bauern Suppe mitessen dürfen. Einmal hatte uns in einem kleinen, abgelegenen Ort eine Frau ein selbstgebackenes Brot geschenkt. Es war zwar kaum größer als ein Doppelbrötchen gewesen. Aber wir genossen es. Wir aßen es in winzigen Stückchen und kauten es andächtig. Wie sehr erinnerte der Geschmack dieses Brotes an früher!
    In der Nähe von Schotten kamen wir an einem Feld mit Winterroggen vorüber. Der war im Herbst, schon nach dem Bombentag, eingesät worden. Zuerst wollten wir das, was wir sahen, nicht glauben. Uns kamen diese winzigen grünen Keime unter dem tauenden Schnee - ein ganzes Feld voll grüner Sprossen! - fast wie eine Fata Morgana vor.
    »Hier hat jemand in einer so anormalen Zeit wie dieser etwas völlig Normales getan«, sagte mein Vater. »Kaum zu glauben.« Wir blieben lange vor dem Feld stehen, und die Mutter sagte: »Da kriegt man wieder richtig Hoffnung.«
    Später, in der Wetterau, verließ uns das Glück. Je weiter wir kamen, um so verwüsteter waren die Ortschaften. Sie waren fast menschenleer. An den Straßen entlang lagen halbverweste Leichen und Tierkadaver. Als wir zu den Ruinen von Friedberg kamen, fing es heftig an zu schneien. Die Straßen verschwanden, kein Schneepflug fuhr, wir orientierten uns an den Orts- und Straßenschildern, die hier und dort einsam in der Landschaft aufragten, sofern sie die Druckwelle nicht umgelegt hatte.
    »Bonames?« fragte eine Frau erstaunt, die an uns vorüberwankte. »Das können Sie sich sparen. Da ist nichts mehr.«
    »Willst du immer noch weiter?« fragte der Vater die Mutter, die sich, bis zu den Augen eingemummt, gegen den Wind stemmte.
    »Ja«, sagte sie. »Ich muß es mit eigenen Augen gesehen haben.«
    Der Vater führte uns auf die Autobahn Kassel-Frankfurt - oder auf das, was von

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