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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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nicht aus.«
    »Hast du eine Ahnung!« rief sie. »Der Mensch ist zu allem fähig!«
    »Das stimmt«, seufzte er.
    »Also gibst du zu, daß Frankfurt noch stehen könnte?«
    »Nein«, sagte er. »Nicht Frankfurt und nicht Bonames.«
    »Beweis mir das!« rief sie empört. »Erst dann geb ich Ruhe.«
    Das konnte er natürlich nicht. Sie ließ sich nicht einmal überzeugen, als der Vater einen Mann aus Frankfurt-Praunheim mit heimbrachte, der nach Schewenborn gekommen war, um bei Verwandten nach Schmalz und Kartoffeln zu fragen. Der war nach dem Bombentag zu Fuß aus dem Urlaub im Odenwald nach Frankfurt zurückgekehrt, zusammen mit seiner Frau. Aber die war inzwischen an Typhus gestorben. Er berichtete, daß Frankfurt weg sei - einfach ganz und gar weg. Praunheim auch.
    Das ganze Rhein-Main-Gebiet bis hinunter nach Darmstadt und hinüber nach Mainz sei eine einzige Aschenwüste.
    Die Mutter blieb einsilbig, solange er da war. Der Vater schenkte ihm ein paar Kartoffeln, für die sich der Mann überschwenglich bedankte. Dann ging er wieder. Er humpelte. Um die Füße und Waden hatte er sich Säcke gebunden. Er sah aus wie ein alter Mann. Er hatte erwähnt, er sei sechsunddreißig.
    Sobald er fort war, sagte der Vater zur Mutter: »Jetzt hast du's also von einem Zeugen gehört.«
    »Gar nichts habe ich gehört!« fuhr sie auf. »Woher wissen wir, ob er die Wahrheit sagt? Kennst du diesen Mann? Bist du sicher, daß er aus Praunheim ist? Er hat erzählt, was du hören wolltest. Ihm ging's doch nur um die Kartoffeln!«
    Zum Hunger kam eine Grippe. Sie ging in der ganzen Gegend um, soweit man erfahren konnte. Gesunden und Satten hätte sie nicht viel anhaben können, aber den Halbverhungerten wurde sie zum Verhängnis. Wieder wurden Tote verbrannt, denn die Erde war gefroren, und es hätten mehrere Gruben gegraben werden müssen, wenn man alle hätte bestatten wollen. Die ganze Stadt stank wieder nach verbranntem Haar, verbranntem Fleisch.
    Als die Mutter von dieser Grippe erfuhr, die wir ihr lange verheimlicht hatten, geriet sie in Panik. »Nicht noch jemanden!« jammerte sie. »Nicht den Roland, nicht den Jens! Und schon gar nicht das Neue -!«
    Sie wurde halb wahnsinnig vor Angst, wollte kein Wasser mehr trinken, keine Klinke mehr berühren, nichts mehr essen. Sie wollte fort, nur fort aus Schewenborn, weg von der Grippe, weg von der Gefahr.
    »Inge«, sagte der Vater verzweifelt, »du treibst uns alle ins Verderben, und dich mit.«
    »Du bist verwirrt«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Du kannst nicht mehr klar denken. Ich will uns doch retten. Ihr seid gerettet, wenn ihr mitkommt!«
    Der Vater ließ sich auf das Sofa fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.

10
    Am nächsten Morgen, als ich in die Küche kam, stand meine Mutter in Großmutters Wintermantel über den Kinderwagen gebeugt und kramte darin herum. Sie hatte ihre alten Wanderschuhe an, und auf dem Küchentisch stand unser Koffer weit aufgeklappt. Der zweite Koffer stand bereits vollgepackt und geschlossen neben der Tür. Jens war auch schon dick eingemummelt. Er hüpfte vor Erwartung und Aufregung. Und das Feuer im Herd war aus.
    »Vati!« rief ich entsetzt. »Komm schnell -«
    Der Vater kam mit verquollenen Augen in die Küche gestürzt.
    »Nein«, schrie er, »wir bleiben hier!«
    »Dann bleib du hier«, sagte die Mutter ruhig.
    »Die Kinder bleiben auch hier!«
    »Dann geh ich eben allein«, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Allein mit dem Neuen. Du kannst mich nicht halten.«
    Nein, wir konnten sie nicht halten. Und so zogen wir zwei Stunden später alle zusammen los. Ich wollte meine ledernen Kniebundhosen anziehen, die ich am Bombentag angehabt hatte. Aber sie paßten mir nicht mehr. Sie waren mir zu kurz geworden. Vaters Hosen waren mir aber noch zu groß. So zog ich Großvaters Hosen an, mit Hosenträgern, weil sie mir zu weit waren.
    Der Vater hatte die beiden Koffer samt unseren Schlafsäcken auf den Fahrradanhänger geschnürt und auf den Gepäckträger des Fahrrads eine pralle Reisetasche gebunden. Vater und ich trugen Rucksäcke voll Kartoffeln, Äpfeln, Pilzen, Möhren und Steckrüben. Ich schob das Fahrrad, er den Kinderwagen. In dem saß Jens, der bald zu quengeln anfing, denn quer über seinen Beinen lag noch ein kleiner Koffer, gefüllt mit Babywäsche, die die Mutter während des Winters aus Großmutters Stoff- und Garnvorräten genäht, gestrickt und gehäkelt hatte. Nur die Mutter trug nichts außer einer

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