Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
Vom Netzwerk:
alte Mann deutete auf eine Reihe von Schwarzweißfotos, die an einer Leine über dem Bett baumelten. Chan warf dem alten Mann einen scharfen Blick zu.
    »Du hast sie aus der Schachtel geholt?«
    »Ich schlafe mit ihnen«, sagte der alte Mann schroff. »Pervers, was?«
    Chan gab keine Antwort. Auf dem Foto direkt vor ihm erkannte er die eingefallenen Gesichtszüge einer zum Tod Verurteilten. Darunter stand: Gefangene, die am 29. August 1990 in Baise in der Autonomen Region Guangxi von Militärpolizisten zur Hinrichtung geführt wird. Als sein Blick zu den anderen Fotos wanderte, sah er, daß auf jedem eine Hinrichtung dargestellt war. Manche hatten, so die Bildunterschriften, erst vor einem Monat stattgefunden.
    Der alte Mann packte Chan, der zu zittern begonnen hatte, am Arm. Dieser hielt die Tränen zurück und schüttelte seine Hand ab.
    »Ich gehe jetzt lieber.«
    Der alte Mann folgte ihm zurück zum Buchladen. Fast schon flehend sagte er zu Chan: »Versuch, am Donnerstag dazusein.«
    Chan ging, ohne sich zu verabschieden. Draußen auf der Straße zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. China – in Hongkong zu leben, war fast so, als habe man sein Lager in der Höhle des Zyklopen aufgeschlagen. Wenn man überleben wollte, mußte man die Gewohnheiten der Bestie genau studieren, doch früher oder später kam man zu dem Schluß: Der Zyklop war wahnsinnig.

FÜNF
    Obwohl man sich erst ziemlich spät am Abend über einen gemeinsamen Termin einigen konnte, hielten der Commissioner for Security, der Commissioner of Police und der Politische Berater die Angelegenheit für dringlich genug, um sich noch in dieser Nacht zu treffen. Tsui holte Caxton Smith, den Commissioner for Security, mit seinem weißen Toyota ab, den ein Chauffeur lenkte. Zusammen betraten sie das Regierungsgebäude in Queensway, in dem sich um zehn Uhr abends fast niemand mehr aufhielt. Im einundzwanzigsten Stock gingen sie den Flur zum Büro des Politischen Beraters hinunter.
    Von den Hunderten von Engländern und Engländerinnen, die für die Regierung in Hongkong arbeiteten, wurde lediglich der Politische Berater direkt vom Außenministerium aus dessen Diplomatenstab berufen. Er unterstand nicht dem Gouverneur, sondern der Kolonialregierung in London und war sozusagen der verlängerte Arm des Mutterlandes. Er überwachte jede Aktion der Kolonialverwaltung, die sich in irgendeiner Weise auf die heikle Beziehung zwischen London und Peking auswirken konnte.
    Ähnlich wie der Politische Berater befaßte sich der Commissioner for Security neunzig Prozent seiner Zeit mit China, wenn auch aus dem genau entgegengesetzten Grund. Hongkong teilte fast seine gesamte Grenze zu Lande und zu Wasser mit der Volksrepublik China; es war die Aufgabe des Commissioner for Security, sich mit den zahlreichen Grenzzwischenfällen, darunter Schmuggelei, illegale Einwanderung und bewußte Einschüchterungsaktionen von Pekinger Seite, auseinanderzusetzen.
    Tsui, der von zu Hause kam, trug ein Hemd mit offenem Kragen und eine Freizeithose. Die beiden Engländer hatten noch ihre Büroanzüge an. Sie saßen an einem langen Tisch in einem Vorraum zum Hauptbüro des Politischen Beraters.
    Milton Cuthbert hob den Blick von dem kurzen Bericht, den Tsui ihm noch vor dem Treffen hatte zukommen lassen.
    »Ronny, informieren Sie mich doch bitte zuerst über die Morde. Das scheint der Ausgangspunkt für alles andere zu sein.«
    Tsui räusperte sich und zögerte einen Augenblick, bevor er etwas sagte. »Abgesehen vom Sensationswert ist die Sache überhaupt nicht so wichtig. Sie haben in den Zeitungen darüber gelesen. – Die sogenannten ›Fleischwolfmorde‹. Ein Bottich voll mit menschlichem Fleisch, das laut gerichtsmedizinischer Analyse zu drei verschiedenen Körpern gehörte, wurde verwesend in einem Lagerhaus in Mongkok gefunden. Die Körper waren in einem Industriefleischwolf zerhäckselt worden und deshalb völlig unkenntlich.
    Weitere Untersuchungen ergaben, daß alle drei noch am Leben waren, als sie durch den Fleischwolf gedreht wurden.«
    Milton hob die Augenbrauen. »Das kann man feststellen?«
    »Das hängt mit dem Zustand der Nervenenden und der Blutbeschaffenheit zusammen. Wenn der Körper extreme Schmerzen erleidet, ziehen sich die Nervenenden zusammen und eine bestimmte Chemikalie wird ins Blut ausgeschüttet. Aus dem Fleischwolf sind ziemlich große Stücke herausgekommen, so daß eine gerichtsmedizinische Untersuchung in beschränktem Umfang

Weitere Kostenlose Bücher