Die letzten Tage von Hongkong
als heute, daß das Glück der wenigen vom Elend der vielen abhängt. So sieht das kapitalistische System aus, das man uns aufgezwungen hat. Ihr, die ihr ein Bein im Westen habt, solltet euch eigentlich über unsere neuen Erkenntnisse freuen.«
Er dachte einen Augenblick lang nach. Sein Blick ruhte dabei auf Chan. »In meiner Jugend, ich war damals nur wenig jünger als Sie jetzt, habe ich fest an das marxistisch-leninistische Denken geglaubt. Das gleiche gilt für General Wen, General Chen Yu, General Wu, General Guo, General Pu Xinyu, General Zuo, General Lao, General Tang, General Zhang, General Wang, General Li, General Yao, General Pan, General Ge und General Yu Wei.« Sie alle nickten, als er ihre Namen erwähnte. »Wir haben alle daran geglaubt. 1952 hatte ich die Ehre, einem Vortrag des großen Tschu-En-Lai in der Cherishing Humanity Hall in Zhongnanhai in Peking beizuwohnen. Ich habe seinen siebenstündigen Ausführungen aufmerksam gelauscht. Natürlich habe ich nichts verstanden, aber wie konnte ein Mann, der sieben Stunden lang sprach, sich irren? Wie konnte Mao sich irren? Wie konnten Lenin und Marx sich irren? Nun, so haben wir vierzig Jahre lang zugesehen, wie China immer ärmer wurde, weil es recht hatte, während der Westen reicher wurde, weil er unrecht hatte. Als die Sowjetunion sich auflöste, haben wir alle darüber nachgedacht, was wir aus unserem Leben und, noch schlimmer, aus China gemacht haben. Wie konnte es sein, daß der Westen schließlich doch recht behielt? Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, hat Mao gesagt. Nun, in China hatten wir jede Menge Gewehre, aber keine Macht. Also haben wir angefangen, unsere Gewehre zu verkaufen, die anderen Generäle und ich. Und über Nacht haben sich die Dinge verändert. Leute, die wir noch nie gesehen hatten, aus Ländern, von denen wir noch nie etwas gehört hatten, kamen plötzlich zu uns und wollten unsere Waffen kaufen. Auch Amerika verkauft Waffen, mehr als wir. Mehr als irgend jemand sonst. Wir mußten die Sache richtig organisieren. Aber das war nicht genug. Unsere Gewehre sind zu altmodisch und zu wenig effektiv im Vergleich mit amerikanischen und britischen Waffen.
Also haben die anderen Generäle und ich uns eines Tages zum Mittagessen zusammengesetzt, um herauszubekommen, was uns noch fehlte. Als Chinesen haben wir einen Blick auf die Geschichte geworfen. Woher war das britische Geld gekommen, das es ihnen ermöglicht hatte, das größte Empire der Welt aufzubauen, und dazu Fabriken, Kriegsschiffe und Flugzeuge? Woher kam das Geld der Amerikaner? Die Leute im Westen arbeiten auch nicht härter als die Chinesen, aber sie verdienen tausendmal mehr Geld, weil sie uns gegenüber einen Vorsprung haben. Aber worin bestand dieser Vorsprung? Wir haben ein ganzes Mittagessen lang gebraucht, um das herauszufinden. Sklaven und Drogen. Nach der Sklaven- und Drogenphase des Kapitalismus, wer weiß, da könnten wir vielleicht sogar eine Demokratie haben in China. Aber wir liegen ziemlich weit zurück und müssen da anfangen, wo alle in der Geschichte angefangen haben. Freuen Sie sich nicht, daß wir uns für den Weg zur Freiheit entschieden haben?«
»Nein«, sagte Chan.
Er hätte erwartet, daß er mit einem Schlag oder einer Kugel bestraft würde. Alles, nur nicht dieses langsam anschwellende Lachen der alten Männer am Tisch. Xian wieherte so laut, daß sein Nachbar ihm auf den Rücken klopfen mußte. Er winkte ab.
»Gehen Sie nur, Chief Inspector, Sie können keinen Schaden anrichten. Erzählen Sie der Welt von uns, zetteln Sie eine Revolution an – dann marschieren wir eben ein paar Wochen früher ein. Sie sind ein guter Chinese – stur und altmodisch. Ich war genauso wie Sie, bevor der Westen mich erzogen hat. Sie haben Ihren Fall gelöst. Und während Sie Ihren Fall gelöst haben« – wieder fing Xian zu wiehern an –, »haben wir eine Atombombe gekauft.« Allgemeines Lachen. »Ich sage Ihnen, allmählich finde ich Gefallen an der Art, wie Amerikaner solche Dinge anpacken. Es ist ganz einfach, man braucht nicht den dialektischen Materialismus zu studieren – Geld spricht für sich. Gehen Sie – das System, dem sie so treu gedient haben, ist am Ende. Diese ganzen Pfadfindergeschichten sind vorbei. Jetzt kauft Ihnen niemand mehr die Wahrheit ab – am allerwenigsten die Briten und die Amerikaner. Sie sind jetzt in China.«
Chan und Cuthbert trennten sich im Erdgeschoß der Bank of China voneinander. Cuthbert ging nach rechts zu den
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