Die Leute mit dem Sonnenstich
nicht fällen konnten. Vielleicht als zarter Zweig vor langen Jahren hier angeschwemmt und durch einen Zufall festgehalten, hatte sie tapfer Wurzel geschlagen und — ein wahres Wunder — Sturm, Blitzschläge, Hochwasser und Eisgang überdauert. Ein Veteran und Held unter den Bäumen.
Unter ihrem bis zur Erde herabhängenden Blätterdach hatten Michael und Barbara eine seit Jahren nicht mehr benutzte schilfgedeckte Bretterhütte entdeckt. Vermutlich war sie zur Zeit der Entdeckung Amerikas von unbekannten Insulanern oder, was wahrscheinlicher, aber nicht so hübsch zu denken war, vor längerer Zeit von einem Fischer als Unterstellraum für Reusen und Netze errichtet worden.
Nach einer gründlichen Reparatur des Daches und nach Erneuerung der verfaulten Lederschlaufen, in denen die Tür hing, hatten Michael und Barbara ohne Rücksicht auf die Rechte des Eigentümers diesen Sommerpalast bezogen. Barbara schlief sogar darin, während Michael für diesen Zweck ein paar Schritte von der Hütte entfernt sein Zelt aufgeschlagen hatte. Wenn er zu Barbara auf Kaffeebesuch kam, konnte sie ihm sechs Quadratmeter Raum bieten, ebensoviel oder sogar mehr, als man in Neubauten für sündhaft teures Geld zu erwarten hat. Und diese Gemütlichkeit! Ein Bücherbrett mit ein paar Bänden Joseph Conrad, Jean Paul, Tolstois dickleibiger Anna Karenina, eine Kochnische und eine Zeltbahn als Fußbodenbelag gaben dem Raum einen geradezu behaglichen Komfort. Den Höhepunkt des häuslichen Glückes aber bildete ein Herd, ein uraltes eisernes Herdchen mit einer Kochstelle und mit einem Abzugsrohr ins Freie, einem sogenannten Indianerkamin. Dieser Herd stand auf drei verrosteten dünnen gußeisernen Beinchen — das vierte, das dem armen Ding leider abhanden gekommen war, wurde durch einen hochkant gestellten Ziegelstein ersetzt. Der Herd war so alt und ehrwürdig, als stamme er aus dem Nachlaß der delphischen Pythia. Aber er zog! Er zog, daß Barbara von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu tun hatte, um Treibholz für sein kleines gefräßiges Maul zu sammeln.
Der kluge und umsichtige Einfall von Michael, drei Tafeln mit weithin leuchtenden Totenköpfen und den Aufschriften »Achtung! Selbstschüsse!< und »Betreten polizeilich verboten!< an der Spitze und an den beiden Stromflanken der Insel aufzurichten, hatte bislang unerwünschte Besucher ferngehalten. Paddler sind nämlich ein geselliges Völkchen, ihr munteres Ahoi klingt einladend und anknüpfungsbereit — und so wenig menschenscheu Michael auch im allgemeinen war, dieses Mal bemühte er sich, Dr. Schwenningers ärztlichen und freundschaftlichen Verordnungen und Ratschlägen gewissenhaft zu folgen. Nicht nur, weil er befürchtete, die frohen Gäste könnten, von den Vorzügen dieser idyllischen Stätte und von der Güte von Barbaras Kochkünsten hingerissen, das Weiterfahren vergessen. Denn schließlich hätte man den Besuch doch zum Essen einladen müssen — schon wegen des Anstandes und der guten Sitten und auch als nobler Hausbesitzer, nicht wahr? Aber wenn sie sich dann einnisteten, hätte man hinterher die unangenehme Aufgabe gehabt, sich auch als Hausknecht zu betätigen und die Gäste hinauszuwerfen.
Aber da war auch noch etwas anderes, was Michael veranlaßte, sich gegen Fremde abweisend zu verhalten: er angelte nämlich. Er benutzte dazu eine fabelhafte Überkopfwurfrute amerikanischer Herkunft, die sich zwar am besten für die Spinnfischerei eignete, die aber zur Grund- und Floßangelei ebenfalls gut verwendbar war. Der Hauptvorzug dieses Geräts bestand jedoch zweifellos darin, daß man seine drei Teile, Handstück, Mittelgerte und Spitze, im Handumdrehen verschwinden lassen und sozusagen in der Westentasche unterbringen konnte.
Michael hatte mit geübtem Blick an der Ostspitze der Insel ein Plätzchen entdeckt, an dem die oberhalb des Wassers abgefaulten Pflöcke eines ehemaligen Bootssteges die Strömung des Flusses brachen und wo sich nach kluger Verfütterung von Brot- und Käsekrümeln die prachtvollsten Barben förmlich darum rissen, Michael an den beköderten Haken zu gehen.
Michael war von der Leidenschaft des Angelns restlos erfüllt. So etwas überfiel ihn immer wie eine Krankheit, und Barbara betrachtete ihn mit einiger Besorgnis. Sie hatte ihn schon einige Male in ähnlichen Situationen erlebt, einmal, als er sich einen Fotoapparat angeschafft hatte, und ein anderes Mal, als er sich für Mineralogie zu interessieren begann und sich eine Gesteinssammlung
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