Die Leute mit dem Sonnenstich
jungen Herrn Steffen lief das Wasser im Munde zusammen, daß er schlucken mußte, aber er sagte kein Wort. Und Herr Keyser knirschte mit den Zähnen. Unentwegt spürte er Marions Blick wie eine Messerklinge an seinem Hals. Aber bei dem Entwurf der Speisekarte und bei dem Gedanken an Aal grün mit Gurkensalat, den er für sein Leben gern aß und der um diese Jahreszeit auf jeder Hoteltafel zu finden war, kamen ihm fast die Tränen in die Augen.
»Und dann ein Fläschchen Burgunder — oder zwei«, fuhr Herr Keyser tollkühn fort. Er war jetzt so weit, daß ihn auch zehn Töchter vom Schlage Marions nicht daran hindern konnten, seine lustvollen Träume weiterzuspinnen. Wer weiß, ob er diesen Mut als Marions Vordermann im Boot — und zwischen sich und der strudelnden Tiefe nichts als eine dünne, gummierte Leinenhaut — aufgebracht hätte! Das feste Land unter seinen Füßen jedoch steigerte seine Kühnheit ins Unermessene: »Und ohne etwas gegen den prachtvollen Schlafsack und die Gummiunterlage sagen zu wollen, Marion — aber ich liebe nun einmal die Abwechslung! Und ich stelle es mir herrlich vor, eine Nacht wieder in einem richtigen Bett zuzubringen. Daunen oben, Federn unten und zwei Kissen unter dem Kopf.«
»Du hast achtundfünfzig Jahre lang im Bett geschlafen!« sagte Marion widerspenstig.
»So machst du es stets, Marion«, klagte der Vater kummervoll, »wenn du nichts Sachliches vorzubringen hast, wirst du unzart und erinnerst mich an mein Alter.«
Steffen hielt die Flußkarte bereits auf dem Schoß.
»Es sind dreiundzwanzig Kilometer bis Ingols-tadt. Wir werden uns tüchtig ‘ranhalten müssen, wenn wir...«
Herr Keyser legte warnend einen Finger vor die Lippen. Eigentlich konnte jetzt nur noch ein blind und taub Geborener am Heraufkommen des Unwetters zweifeln.
Vertraute Marion heute zum erstenmal in ihrem Leben der größeren Wettererfahrung ihres Vaters? Oder — war auch ihr der Gedanke an ein gegrilltes Hähnchen mit Pommes frites und jungen Salaten sowie an ein frisch bezogenes Bett zwischen vier festen Pfosten aus Holz oder Metall nicht unangenehm?
Die aufblasbaren Matratzen, die sie für die Reise angeschafft hatte, waren zwar eine Spitzenleistung der morphologischen Technik — und sie hatten sogar eine kleine Fußpumpe dabei, die das Füllen zum Kinderspiel machte — und man lag auch herrlich weich und warm darauf, denn Luft ist bekanntlich ein hervorragender Isolator, aber irgendwo im Unterbewußtsein kitzelte, besonders, wenn man zu kräftig gepumpt hatte, eine klinische Erinnerung den Schlaf. Man schaukelte auf dem Lager doch immer ein wenig wie auf einem sogenannten Wasserbett.
»Also dann auf!« rief sie bekehrt und entschlossen. »Packen wir und machen wir uns auf den Weg!«
Die Herren sahen sich an, als wären sie Zeugen eines Wunders geworden.
3
Zehn Kilometer stromab vom Lagerplatz Marions und ihrer Begleiter entfernt umfloß die Donau eine Insel, von der Michael Prack und Barbara Hollstein vor wenigen Tagen Besitz ergriffen hatten.
Jean Paul Friedrich Richter, einer von Barbaras bevorzugten Dichtern, aus dessen kleinem Roman >Dr. Katzenbergers Badereise< sie Michael abends beim Schein der Karbidlampe zuweilen eine Stelle vorlas, würde jetzt etwa fortfahren: »Du bemerkst bereits, geneigter Leser, oder du, schöne Leserin, daß der liebenswürdigsten der drei Parzen, Klotho, die die Schicksalsfäden der Menschen spinnt, jetzo ein Knoten im Gewebe unterläuft, der fünf Fäden für eine geraume Weile verwirrt, ehe es einer ihrer weniger liebenswürdigen Schwestern, Lachesis vielleicht, gelingen wird, die unheilvolle Verschlingung nach ihrem Ermessen zu lösen...«
Es war die Ferieninsel, die Michael sich erträumt und gewünscht hatte. Sie lag schmal und lang wie ein großes Flachboot im Strom, und hätte man an jede Seite zwölf Ruderer gesetzt, so wäre die Illusion, daß sie sich wie ein riesiger Prahm fortbewege durch die weiß schäumende Brechung des Mittelwasser führenden Flusses an ihrer Spitze, vollkommen gewesen. Zehn Schritte breit und einiges über dreißig lang, übertraf sie Michaels bescheidene Ansprüche um ein ganzes Stück. Übrigens war Barbara durchaus nicht so begeistert wie er.
Am Westende der Insel, wo der Strom wieder zusammenfloß, stand eine breit ausladende Weide. Sie wuchs bereits aus dem Wasser auf und trug die vernarbten Wunden der scharfen Eisschollen, die alljährlich zur Zeit der Frühjahrsschmelze an ihrem Stamm sägten und sie doch
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