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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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verliebt, oder ist für dich alles nur Spiel?«
    Während sie noch darauf wartete, dass er antwortete, sah sie ihn in ihrer Vorstellung, wie er tatsächlich zur Seite trat, um den Pfeil unbeschadet an sich vorbei auf die im Schatten stehende Gestalt Michels zufliegen zu lassen.
    »Du liebst Michel, du glaubst, dass Michel dich liebt.«
    »Aber stimmt das?« »Er behauptet, dich zu lieben, und gibt dir ja auch greifbare Beweise dafür. Was kann ein Mann mehr tun, um dich zu überzeugen; schließlich kannst du dich doch nicht in seinem Kopf einnisten.« Er drehte wieder seine Runden im Zimmer und schob Sachen hin und her. Jetzt blieb er vor der Karte stehen, die zusammen mit den Orchideen gekommen war.
    »Wessen Haus ist das?« fragte sie.
    »Auf solche Fragen gebe ich nie eine Antwort. Mein Leben ist ein Rätsel für dich. Das ist so gewesen, seit wir uns kennengelernt haben, und ich möchte, dass es so bleibt.« Er nahm die Karte und reichte sie ihr. »Verwahr die jetzt in deiner neuen Handtasche. Von jetzt an erwarte ich, dass du diese kleinen Erinnerungen an mich liebevoll aufhebst. Sieh mal hier!«
    Er hatte die Wodkaflasche halb aus dem Sektkühler herausgehoben. »Da ich ein Mann bin, trinke ich selbstverständlich mehr als du. Trinken bekommt mir nicht; ich bekomme Kopfschmerzen vom Alkohol, und gelegentlich wird mir sogar schlecht davon. Aber wenn schon, dann mag ich Wodka.« Er ließ die Flasche in den Kühler zurücksinken. »Was dich betrifft, so bekommst du ein kleines Gläschen, denn schließlich bin ich nicht von vorgestern, aber grundsätzlich habe ich was dagegen, dass Frauen trinken.« Er hob einen schmutzigen Teller hoch und zeigte ihn ihr. »Ich nasche gern -esse gern Schokolade, Kekse und Obst. Besonders Obst. Trauben, aber es müssen grüne sein, wie sie auch in meinem Heimatdorf wachsen. Was hat Charlie also gestern abend gegessen?«
    »Gar nichts. Nicht nach so was. Ich rauche immer nur meine Post-Koitus-Zigarette.«
    »Nur erlaube ich leider nicht, dass im Schlafzimmer geraucht wird. Im Restaurant in Athen habe ich es geduldet, denn schließlich bin ich ein aufgeklärter, moderner Mann. Sogar im Mercedes darfst du gelegentlich eine rauchen. Aber im Schlafzimmer: nie. Wenn du nachts Durst hast, trinkst du Wasser aus dem Wasserhahn.« Er zog den roten Blazer über. »Ist dir aufgefallen, wie der Wasserhahn gegluckert hat?«
    »Nein.«
    »Dann hat er nicht gegluckert. Manchmal tut er das, manchmal nicht.«
    »Er ist Araber, nicht wahr?« sagte sie und ließ ihn immer noch nicht aus den Augen. »Er ist der Prototyp eines arabischen Chauvis. Und ihr habt seinen Wagen geklaut.«
    Er machte den Verschluss zu. Richtete sich auf, sah sie einen Augenblick an, teils berechnend und teils - sie konnte nicht gegen dieses Gefühl an - zurückweisend.
    »Oh, er ist mehr als nur ein Araber, würde ich sagen. Er ist mehr als nur ein Chauvi. Er hat überhaupt nichts Gewöhnliches, schon gar nicht in deinen Augen. Geh bitte rüber zum Bett.« Er wartete, während sie das tat, und beobachtete sie gespannt. »Fühl unter mein Kopfkissen! Langsam - Vorsicht! Ich schlafe auf der rechten Seite. So.«
    Tastend, wie befohlen, ließ sie die Hand unter das kalte Kissen gleiten und stellte sich dabei das Gewicht von Josephs schlafendem Kopf vor, wie er es zusammendrückte. »Hast du sie? Ich hab’ gesagt: vorsichtig!«
    Ja, Jose, sie hatte sie gefunden.
    »Hol sie behutsam heraus. Sie ist nicht gesichert. Michel hat nicht die Gewohnheit zu warnen, ehe er schießt. Die Pistole ist wie ein Kind für uns. Sie teilt jedes Bett mit uns. Wir nennen sie ›unser Kind‹. Selbst, wenn wir uns leidenschaftlich lieben -dieses Kissen berühren wir nie, und wir vergessen keinen Augenblick, was darunter liegt. So leben wir. Siehst du jetzt, dass bei mir nichts gewöhnlich ist?«
    Sie betrachtete sie, wie sie da so glatt auf ihrer Handfläche lag. Klein. Braun und wohlproportioniert.
    »Bist du jemals mit so einer Pistole umgegangen?« fragte Joseph.
    »Schon oft.«
    »Wo? Und gegen wen?« »Auf der Bühne. Abend für Abend.«
    Sie reichte sie ihm und sah zu, wie er sie genauso selbstverständlich in den Blazer steckte, als verstaue er seine Brieftasche. Sie folgte ihm nach unten. Das Haus war leer und unerwartet kalt. Der Mercedes wartete draußen im Vorhof. Zuerst wollte sie nur fort: irgendwohin, nur raus hier, auf die offene Straße, und nur wir beide allein. Die Pistole hatte ihr Angst gemacht, und sie brauchte Bewegung. Doch als

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