Die Libelle
Ned Quilley, in Agenten- und Schauspielerkreisen unter dem Namen ›Jammerlappen Quilley‹ bekannt, der nie aus seiner Abneigung gegen Alastair oder aus seiner Überzeugung ein Hehl gemacht habe, dass Alastair der schlechte Einfluss sei, der hinter Charlies verblasenen politischen Ansichten stehe. Aus diesem Grund war er nun höchstpersönlich vorbeigekommen, um Quilley den Hals umzudrehen. Nach ein paar Tassen Kaffee fing er jedoch an, seiner unsterblichen Bewunderung für seinen Gastgeber Ausdruck zu verleihen, und Quilley trug Mrs. Longmore auf, ihm ein Taxi zu bestellen.
Am Abend desselben Tages saßen die Quilleys beim gemeinsamen Aperitif vorm Abendessen im Garten - sie hatten erst vor kurzem für anständige Gartenmöbel tief in die Tasche gegriffen; Gusseisen, aber gegossen in den Original-Gussformen aus der Zeit vor der Jahrhundertwende -, und Marjory, die ernst seiner Geschichte gelauscht hatte, brach zu seinem großen Ärger in Lachen aus.
»Oh, dieses durchtriebene Frauenzimmer«, sagte sie. »Sie muss irgendeinen betuchten Liebhaber gefunden haben, um sich von Alastair freikaufen zu können!«
Dann sah sie Quilleys Gesicht. Wurzellose amerikanische Filmgesellschaft. Telefonnummern, bei denen keiner mehr rangeht. Filmemacher, die nirgends aufzuspüren sind. Und all das im Bannkreis Charlies. Und ihres Ned.
»Es ist noch viel schlimmer«, erklärte Quilley kläglich.
»Was denn, Liebling?«
»Sie haben all ihre Briefe gestohlen.«
»Was haben sie getan?«
All ihre handschriftlichen Briefe, sagte Quilley. Die sie in den letzten fünf Jahren oder über einen noch längeren Zeitraum geschrieben habe. All ihre geschwätzigen, peinlichpersönlichen billets-doux , geschrieben, wenn sie auf Tournee oder einsam gewesen war. Kleine Köstlichkeiten. Porträtzeichnungen von Regisseuren und Ensemblemitgliedern. Die süßen kleinen Zeichnungen, die sie mit Vorliebe hinkritzelte, wenn sie glücklich war. Futsch. Einfach aus den Unterlagen entwendet. Von diesen grässlichen Amerikanern, die partout nichts hatten trinken wollen - Karman und seinem schrecklichen Kumpel. Mrs. Longmore mache einen Riesenaufstand deswegen, und Mrs. Ellis sei es schlecht geworden.
»Denen würde ich aber einen bitterbösen Brief schreiben«, riet Marjory.
Aber wozu? fragte Quilley sich kleinlaut. Und überhaupt - an welche Adresse denn?
»Besprich das mit Brian«, schlug sie vor.
Schön, Brian war schließlich sein Anwalt; und wozu war ein Anwalt da? Nachdem sie wieder hineingegangen waren, schenkte Quilley sich erstmal einen tüchtigen Schluck ein und stellte den Fernseher an, nur, um die ersten Abendnachrichten mit Filmausschnitten von den letzten scheußlichen Bombenangriffen irgendwo serviert zu bekommen. Krankenwagen, ausländische Polizisten, die Verletzte wegkarrten. Doch Quilley war nicht in der Stimmung für derlei frivole Ablenkungen. Sie hatten Charlies Unterlagen regelrecht geplündert , sagte er sich immer wieder. Die Unterlagen einer Klientin , verflixt noch mal. In meinem Büro! Und der Sohn des alten Quilley sitzt daneben und hält sein Mittagsschläfchen, während sie das tun. So aufs Kreuz gelegt hatte man ihn schon seit Jahren nicht mehr!
Kapitel 8
Falls sie geträumt hatte, konnte sie sich beim Aufwachen nicht mehr daran erinnern. Oder vielleicht erging es ihr wie Adam, sie wachte auf und stellte fest, dass der Traum Wirklichkeit war, denn das erste, was sie sah, war ein Glas frischen Orangensafts neben ihrem Bett, und das zweite Joseph, der zielstrebig im Zimmer hin und her lief, Schränke aufriss und die Vorhänge zurückzog, um den Sonnenschein hereinzulassen. Charlie stellte sich schlafend und beobachtete ihn durch halbgeschlossene Augen, so wie sie ihn auch am Strand beobachtet hatte. Die Linie seines Rückens mit den Narben. Der erste helle Anflug des Alters, der seine sonst schwarzen Schläfen melierte. Wieder das Seidenhemd mit den goldenen Klunkern.
»Wie spät haben wir es denn?« fragte sie.
»Drei Uhr.« Er zerrte einmal am Vorhang. »Drei Uhr nachmittags . Du hast lange genug geschlafen. Wir müssen los.« Und eine goldene Halskette mit dem Medaillon unterm Hemd.
»Was macht der Mund?« »Ach, ich werde wohl nie wieder singen können.« Er ging zu einem alten bemalten Kleiderschrank und holte einen blauen Kaftan heraus, den er über den Stuhl legte. Sie sah keinerlei Spuren auf seinem Gesicht, nur dunkle Ringe unter den Augen, die Müdigkeit verrieten. Er ist aufgeblieben, dachte sie, und ihr
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