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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Handschrift unverkennbar. Doch anstelle von M diesmal die Unterschrift Michel in großen Buchstaben und die l-Schleife am Ende zurückgebogen, wie um die Bedeutung des Namens zu unterstreichen. Sie nahm das Etui und spürte, wie sich sanft und aufmunternd etwas darin bewegte.
    »Meine Fresse!« sagte sie witzig, doch gelang es ihr nicht, die Spannung in ihr oder in ihm zu vertreiben. »Soll ich’s aufmachen? Was ist es denn?«
    »Woher soll ich das wissen? Tu, was du tun würdest.« Sie klappte den Deckel hoch. Ein schweres goldenes Armband, das mit blauen Steinen besetzt war, lag auf dem Seidenfutter. »Himmel!« entfuhr es ihr leise. Dann ließ sie den Deckel mit einem kleinen Laut wieder zuschnappen. »Was muss ich denn tun, um das zu verdienen?«
    »Na schön, das ist also deine erste Reaktion«, sagte Joseph augenblicklich. »Du wirfst einen Blick drauf, stößt einen Fluch aus und klappst das Etui wieder zu. Präg dir das ein! Und zwar genau. So hast du reagiert, von jetzt an, immer.«
    Sie öffnete das Kästchen wieder, nahm das Armband vorsichtig heraus und wog es auf ihrer Handfläche. Freilich hatte sie keinerlei Erfahrung mit Schmuck, außer mit dem Talmi, den sie manchmal auf der Bühne trug. »Ist es echt?« fragte sie.
    »Leider hast du im Moment keine Fachleute bei dir, die dich beraten könnten. Entscheide selbst.« »Es ist alt«, erklärte sie schließlich.
    »Sehr gut, du bist zu dem Schluss gekommen, dass es alt ist.«
    »Und schwer.«
    »Alt und schwer. Jedenfalls nicht aus einem Knallbonbon, auch kein Kinderkram, sondern ein solides Schmuckstück. Was tust du jetzt?«
    Seine Ungeduld war wie ein kleiner Keil zwischen ihnen: sie so nachdenklich und verstört, er so praktisch. Sie besah sich eingehend die Fassungen und den Goldstempel, doch auch von Goldstempeln verstand sie nichts. Sie kratzte leicht mit dem Fingernagel am Metall. Es fühlte sich ölig und weich an.
    »Du hast sehr wenig Zeit, Charlie. In einer Minute und dreißig Sekunden musst du auf der Bühne stehen. Was machst du? Lässt du es in deiner Garderobe liegen?«
    »Du lieber Gott, nein.«
    »Du wirst schon aufgerufen. Du musst dich auf die Socken machen, Charlie. Du musst zu einem Entschluss kommen.« »Hör auf, mich zu drängeln. Ich geb es Millie, um es für mich aufzuheben. Millie ist meine Ersatzspielerin, die auch souffliert.«
    Dieser Vorschlag passte ihm gar nicht. »Du hast aber kein Vertrauen zu ihr.«
    Sie war der Verzweiflung nahe. »Ich verstecke es im Klo«, sagte sie. »Hinter dem Wasserkasten.«
    »Das ist zu nahe liegend.«
    »Im Papierkorb. Lege etwas darüber.«
    »Jemand könnte reinkommen und ihn leeren. Überleg doch!«
    »Joseph, lass mich... Ich versteck’ es hinter den Malsachen! Ja, das ist richtig. Oben auf einem der Regalbretter. Da hat seit Jahren keiner mehr Staub gewischt.«
    »Ausgezeichnet. Du legst es ganz hinten auf eines der Regale, und dann machst du, dass du rauskommst, um deinen Platz einzunehmen. In allerletzter Minute. Charlie, Charlie, wo hast du gesteckt? Der Vorhang geht auf. Ja?«
    » Okay «, sagte sie und stieß eine ungeheure Menge Puste aus. »Was für Gefühle bewegen dich? Jetzt . Was dieses Armband betrifft - und denjenigen, der es dir geschenkt hat.«
    »Nun ja - ich bin erschrocken - stimmt’s nicht?«
    »Warum solltest du erschrocken sein?«
    »Hm, ich kann es nicht annehmen - ich meine, das kostet -es ist wertvoll.«
    »Aber du hast es angenommen. Du hast den Empfang durch deine Unterschrift bestätigt, und jetzt hast du es versteckt.«
    »Aber bloß bis nach der Vorstellung.«
    »Und dann?«
    »Na ja, ich geb’s zurück. Das würde ich doch tun, oder?«
    Seine Anspannung ließ etwas nach, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ob er endlich seine These bewiesen hätte. »Und bis dahin - wie kommst du dir da vor?«
    »Überwältigt. Erschüttert. Was willst du denn, wie ich mir vorkomme?« »Er ist nur wenige Meter von dir entfernt, Charlie. Er hält die Augen leidenschaftlich auf dich gerichtet. Jetzt sieht er sich die Vorstellung schon zum dritten Mal an. Er hat dir Orchideen und Schmuck geschickt und dir zweimal gesagt, dass er dich liebt. Einmal normal, einmal unendlich. Er ist schön, viel schöner als ich.«
    In ihrer Verwirrung übersah sie vorläufig, wie er von Mal zu Mal mit größerer Intensität ihren Freier beschrieb. »Dann spiele ich eben, was das Zeug hält, und gebe mein Bestes«, sagte sie und kam sich dabei ebenso gefangen wie töricht

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