Die Libelle
sie: ›Michel! Michel!‹ Ja? Wunderschön. Nur ruft sie vergeblich. Michel ist nicht da. Was tust du jetzt?«
»Stammt der Text von dir , Joseph?«
»Ist doch egal.«
»Kehre ich in meine Garderobe zurück?«
»Kommst du denn gar nicht auf die Idee, im Zuschauerraum nachzusehen?«
»Aber natürlich, verdammt - ja, natürlich.«
»Welchen Eingang benutzt du?« »Den Eingang vom Parkett. Da hast du schließlich gesessen.«
»Wo Michel gesessen hat. Du betrittst den Zuschauerraum also durch den Eingang zum Parkett, versetzt der Querstange der Tür einen Stoß. Hurra, sie gibt nach. Mr. Lemon hat noch nicht abgeschlossen. Du betrittst den leeren Zuschauerraum, schreitest langsam den Gang hinab.«
»Und da ist er«, sagte sie leise. »Himmel, ist das kitschig!«
»Aber es haut hin.«
»Oh ja, hinhauen tut es schon.«
»Denn er ist da, sitzt immer noch auf demselben Platz, erste Reihe Mitte. Und starrt auf den Vorhang, als ob er ihn dadurch bewegen könnte, nochmals aufzugehen und ihm den Blick auf die Erscheinung seiner Johanna freizugeben, den Geist seiner Freiheit, die Frau, die er unendlich liebt.«
»Ich finde das schrecklich «, brummte Charlie, doch er ging nicht darauf ein.
»Sitzt auf demselben Platz, auf dem er nun schon seit sieben Stunden gesessen hat.«
Ich möchte nach Hause, dachte sie. Lange schlafen, ganz allein, im Astral Commercial and Private . Wie vielen Schicksalen kann ein Mädchen an einem einzigen Tag begegnen? Denn sie konnte nicht mehr länger jenen Unterton von Selbstsicherheit und wachsender Zudringlichkeit überhören, den er hatte, wenn er ihren neuen Verehrer beschrieb.
»Du zauderst, dann rufst du seinen Namen. ›Michel!‹ Einen anderen Namen kennst du ja nicht. Er dreht sich um und sieht dich an, aber er steht nicht auf. Weder lächelt er, noch begrüßt er dich oder entfaltet auf irgendeine Weise seinen umwerfenden Charme.«
»Was tut er dann, der Lump?«
»Nichts. Er starrt dich mit seinen tiefen leidenschaftlichen Augen an, fordert dich heraus zu sprechen. Vielleicht hältst du ihn für arrogant, vielleicht auch für romantisch, aber er hat nichts Gewöhnliches, ist auf keinen Fall schüchtern oder bringt irgendwelche Entschuldigungen vor. Er ist gekommen, weil er Anspruch auf dich erhebt. Er ist jung, kosmopolitisch, gut angezogen. Ein Mann, mit Geld, der viel unterwegs ist, jemand, der keinerlei Verlegenheit kennt. Schön.« Er ging zur ersten Person über. »Du kommst den Mittelgang herunter auf mich zu, merkst schon, dass die Szene sich nicht so entwickelt, wie du erwartet hast. Anscheinend hast du die Erklärungen abzugeben, nicht ich. Du holst das Armband aus der Tasche. Du reichst es mir. Ich mache keine Bewegung. Steht dir gut, wie der Regen von dir runtertropft.«
Die gewundene Straße führte sie hügelan. Seine gebieterische Stimme in Verbindung mit dem elektrisierenden Rhythmus der ständig aufeinander folgenden Kurven trieb sie weiter und immer weiter ins Labyrinth seiner Geschichte hinein.
»Du sagst etwas. Was sagst du?« Da von ihr nichts kam, antwortete er an ihrer Stelle. »›Ich kenne dich nicht. Danke, Michel, ich fühle mich geehrt. Aber ich kenne dich nicht und kann dieses Geschenk unmöglich annehmen.‹ Würdest du das sagen; Ja, das würdest du wohl. Nur vielleicht besser.«
Sie hörte ihn kaum. Sie stand im Zuschauerraum vor ihm, hielt ihm das Etui hin, blickte ihm in die dunklen Augen. Und meine neuen Stiefel, dachte sie; die langen braunen, die ich mir zu Weihnachten gekauft habe. Vom Regen ruiniert, aber was soll’s? Joseph spann sein Märchen weiter aus. »Ich sage immer noch kein Wort. Deine Bühnenerfahrung sagt dir, dass nichts besser geeignet ist, eine Beziehung herzustellen, als Schweigen. Wenn der unselige Kerl nicht den Mund aufmacht, was sollst du tun? Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als deinerseits wieder das Wort zu ergreifen. Erzähl mir, was du diesmal zu mir sagst.«
Eine gewöhnliche Schüchternheit lag im Widerstreit mit ihrer sich regenden Phantasie. »Ich frage ihn, wer er ist.«
»Ich heiße Michel.«
»Das weiß ich ja schon. Michel und ?«
»Keine Antwort.« »Ich frage dich, was du in Nottingham machst.«
»Mich in dich verlieben. Weiter.«
»Himmel, Joseph...«
»Weiter!«
»Das kann er doch nicht zu mir sagen!«
»Dann sag ihm das.«
»Ich dringe in ihn. Flehe ihn an.«
»Dann lass hören, wie du das machst - er wartet auf dich, Charlie! Sprich mit ihm.« »Ich würde sagen…«
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