Wellenzauber
1. Kapitel
»Ich habe Angst!« Das Mädchen starrte Sina aus weitaufgerissenen Augen an. Marie hieß es und erwartete sein erstes Kind. Sina warf einen schnellen Blick auf das Krankenblatt. Himmel, die Kleine war erst sechzehn! Nur wenig älter als sie selbst an dem Tag, an dem ihre Welt zusammengebrochen war. Zehn Jahre war das jetzt her, aber noch immer schien es ihr, als sei alles erst gestern geschehen. Damals musste sie von einem Moment auf den anderen erwachsen werden, genau wie jetzt dieses junge Mädchen, nur aus anderen Gründen.
Marie stieß einen schrillen Schmerzenslaut aus, und Sina konzentrierte sich ganz auf die blutjunge Patientin. »Immer mit der Ruhe und schön tief atmen.«
»Ich will einen Arzt! Warum kommt denn keiner?«
»Nur keine Sorge. Wenn es so weit ist, geht’s in den Kreißsaal, und dann ist auch ein Arzt zur Stelle.«
Was eigentlich gar nicht nötig wäre, fügte sie in Gedanken hinzu. Sina war schließlich eine ausgebildete Hebamme und konnte sehr gut ein Kind auch allein auf die Welt holen. Aber an der Geburtsklinik Sankt Marien erwarteten die Patientinnen hundertprozentige medizinische Versorgung.
Manchmal träumte Sina von einem Leben als freie Hebamme, am liebsten auf dem Lande, wo sie selbständiger arbeiten könnte. Aber an der Klinik hatte sie ihr festesEinkommen, und das war wichtig für jemanden, der ganz allein auf der Welt war.
»Es tut so weh!« Die nächste Wehe rollte über Marie hinweg. »Kann ich nicht etwas haben? Bitte! Irgendein Schmerzmittel.«
Sina seufzte. Bei Marie waren keine Komplikationen zu erwarten, außer ihrer übergroßen Furcht. Die Herztöne des Babys waren stark und regelmäßig, seine perfekte Schädellage versprach eine normale Geburt. »Wo ist denn dein Freund?«, fragte Sina, um sie abzulenken. »Er sollte heute bei dir sein.«
»Der? Pah! Der hat mich sitzenlassen, als ich ihm gesagt hab, dass ich schwanger bin.« Tränen sammelten sich in Maries Augen.
Na, prächtig, dachte Sina. Das habe ich ja gut hingekriegt. Wieder schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit ab. Auch sie war damals verlassen worden. Von ihrem besten Freund, zu einer Zeit, als sie ihn am meisten brauchte.
Verdammt! Was war denn heute mit ihr los? Warum musste sie ständig an früher denken? Das konnte nur an ihrer Müdigkeit liegen. Ihr Nachtdienst war schon zu Ende gewesen, als Marie eingeliefert wurde. Und weil sonst niemand verfügbar war, blieb Sina auch nach dem Schichtwechsel bei ihr.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie, ging ins Bad und ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Aus dem Spiegel schaute ihr ein schmales Gesicht mit tiefen Ringen unter den grauen Augen entgegen. »Unwettergrau«, hatte Federico mal behauptet und sich von ihr einen schmerzhaften Hieb in den Bauch eingefangen.
»Meine Augen sind so schön und glänzend wie regennasser Basalt«, hatte sie ihn dann berichtigt.
» Eh , wie poetisch. Das muss ich mir merken.« Er war auf sie zugekommen, groß und kräftig, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, und …
O Gott! Schon wieder! Sina stöhnte leise auf. Sie musste vergessen, endlich vergessen. Doch wie sollte das gelingen, wenn der Mensch, der gegangen war, einen Teil des eigenen Herzens mitgenommen hatte?
Aus dem Krankenzimmer drang eine laute Stimme zu ihr ins Bad. »Hallo! Ist hier niemand? Wieso muss meine Tochter mutterselenallein in diesem Zimmer liegen?«
»Ich bin hier«, sagte Sina und war mit wenigen Schritten wieder am Bett.
»Das wurde aber auch Zeit! Was erlauben Sie sich? Sie können doch mein Kind nicht allein lassen!« Die Frau war von imposanter Größe, gut gekleidet und offenbar daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. »Sie schaffen jetzt auf der Stelle kompetentes Personal herbei. Haben Sie überhaupt schon eine Ausbildung?«
Sina knirschte mit den Zähnen. Sie wusste, dass sie auf viele Menschen sehr jung wirkte, und ihre kleine Statur tat ein Übriges.
Ohne die Frau einer Antwort zu würdigen, machte sie sich am Herzton-Wehen-Schreiber zu schaffen. »Wenn du dich stark genug fühlst, solltest du jetzt ein bisschen auf dem Flur umhergehen«, sagte sie dann zu Marie.
»Sind Sie verrückt geworden? Mein Häschen kann doch nicht durch die Gegend hopsen, wenn jeden Moment das Baby kommt! Sehen Sie denn nicht, wie Sie leidet?«
Dein Häschen wäre gar nicht in diese Situation gekommen, wenn du als Mutter ein bisschen besser aufgepasst hättest, dachte Sina böse. Aber bevor sie etwas erwidern
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