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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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immer für underdogs eintrittst -, zeigst keine Verantwortung einem Mann gegenüber, den du mit deiner Schönheit, deiner Begabung und deiner revolutionären Leidenschaft becircst hast?«
    Sie versuchte, ihn zu zügeln, doch er gab ihr keine Gelegenheit dazu.
    »Du hast kein Herz, Charlie. Andere könnten in diesem Augenblick eine Art von raffiniertem Verführer in Michel sehen. Du nicht. Du glaubst an den Menschen. Und genau das tust du auch heute abend bei Michel. Ohne, dass du an dich selbst denkst, hat er es dir aufrichtig angetan.«
    Am Horizont vor ihnen war bei ihrer Fahrt hinauf ein kleines Dorf auf einer Anhöhe zu erkennen. Sie sah die Glühlampen einer Taverne neben der Straße baumeln.
    »Aber egal, was du auch in diesem Augenblick sagst, ist bedeutungslos, weil Michel sich endlich einen Ruck gibt und dich anspricht«, nahm Joseph mit einem raschen, abschätzenden Seitenblick den Faden wieder auf. »Alles andere als schüchtern oder gehemmt, spricht er dich mit seiner weichen und reizvollen ausländischen Aussprache - halb französisch, halb etwas anderes - an. Er will sich nicht mit dir streiten, sagt er, du bist alles, was er sich je erträumt hat, er möchte dein Geliebter werden, möglichst noch heute nacht, und er nennt dich Johanna, obwohl du ihm sagst, dass du Charlie bist. Wenn du mit ihm essen gingst und wenn du ihn nach dem Essen immer noch nicht wolltest, werde er es sich überlegen, ob er das Armband zurücknehme. Nein, sagst du, er müsse es jetzt gleich zurücknehmen; du hättest schon einen Liebhaber, und außerdem, sei doch nicht lächerlich - wo will man denn in Nottingham an einem völlig verregneten Samstag abend um halb elf noch was zu essen bekommen? …Das würdest du doch sagen, oder? Es stimmt schließlich, oder?«
    »Nottingham ist das letzte Kaff«, räumte sie ein, weigerte sich jedoch, ihn anzusehen.
    »Und ein richtiges Abendessen - du würdest noch ausdrücklich sagen, dass sei ein unmöglicher Traum?« »Entweder chinesisch oder fish and chips .«
    »Trotzdem hast du ihm ein gefährliches Zugeständnis gemacht.« »Wieso?« wollte sie wissen. Sie war gekränkt.
    »Du hast einen praktischen Einwand erhoben. ›Wir können nicht zusammen zu Abend essen, weil es kein Restaurant gibt.‹ Da könntest du genauso gut sagen, ihr könntet nicht miteinander schlafen, weil du kein Bett hast. Michel spürt das. Er fegt dein Zögern beiseite. Er kennt ein Lokal, hat schon alles arrangiert. Also. Wir können essen. Warum nicht?«
    Er war von der Straße abgebogen und hatte den Wagen vor der Taverne auf einem Parkplatz zum Stehen gebracht. Wie benommen von seinem bewussten Sprung aus der erdichteten Vergangenheit in die Gegenwart, widersinnigerweise freudig davon bewegt, dass er ihr so zugesetzt hatte, und darüber erleichtert, dass Michel sie schließlich doch nicht hatte gehen lassen, blieb Charlie sitzen. Und Joseph auch. Sie wandte sich zu ihm, und durch das bunte Märchenlicht, das von draußen hereinfiel, konnte sie erkennen, worauf sein Blick gerichtet war. Er ruhte auf ihren Händen, die sie immer noch übereinander gelegt im Schoß liegen hatte, die Rechte oben. Soweit sie es in der Märchenbeleuchtung erkennen konnte, war sein Gesicht unbewegt und ohne jeden Ausdruck. Er streckte die Hand aus, packte blitzschnell und mit geradezu chirurgenhafter Sicherheit ihr rechtes Handgelenk, hob es in die Höhe, enthüllte das Gelenk darunter und das goldene Armband, das im Dunkeln daran blinkte.
    »Nun, nun, ich muss dir gratulieren«, meinte er ungerührt. »Ihr Engländerinnen verliert keine Zeit.«
    Zornig entriss sie ihm die Hand. »Was hast du denn?« versetzte sie bissig. »Wir sind wohl eifersüchtig, was?«
    Aber sie konnte ihn nicht treffen. Er hatte so ein Gesicht, auf dem man keine Spuren hinterlassen konnte. »Wer bist du?« fragte sie hoffnungslos, als sie ihm hineinfolgte. Ihm? Oder dir? Oder niemandem?

Kapitel 9

    Doch so sehr Charlie auch das Gegenteil hätte annehmen können, sie war an diesem Abend nicht der einzige Mittelpunkt von Kurtz’ Universum; auch nicht von Josephs und schon gar nicht von Michels. Schon eine ganze Zeitlang bevor Charlie und ihr vermeintlicher Liebhaber der Athener Villa endgültig ade gesagt hatten - während sie, in der Fiktion, einander in den Armen liegend ihre Raserei ausschliefen -, saßen Kurtz und Litvak keusch in verschiedenen Reihen einer nach München fliegenden Lufthansamaschine und reisten unter dem Schutz verschiedener Länder: für

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