Die Libelle
deinen Ohren; du weißt nicht, warum, aber irgendwie feindselig. Was fragst du als nächstes?« »Wo er im Augenblick lebt?«
»Da weicht er aus. Genauso wie ich. Manchmal in Rom, sagt er unbestimmt, manchmal in München, ein bisschen in Paris, wo immer er Lust hat zu leben. Er behauptet nicht, bescheiden zu leben, macht aber klar, dass er unverheiratet ist, was dich nicht gerade entsetzt.« Lächelnd zog er seine Hand zurück. »Du fragst ihn, welche Stadt er am liebsten mag, eine Frage, die er als nicht von Belang abtut; du fragst ihn, was er studiert, und er antwortet: ›die Freiheit‹. Du fragst ihn, wo er zu Hause ist, und er erwidert, sein Zuhause stehe gerade unter feindlicher Besatzung. Darauf reagierst du wie?«
»Mit Verwirrung.«
»Doch wie üblich lässt du nicht locker, und so spricht er den Namen Palästina aus. Voller Leidenschaft. Du merkst das seiner Stimme sofort an. Wie ein Kriegsruf - Palästina .« Dabei sah er sie so eindringlich an, dass sie nervös lächelte und den Blick abwandte. »Vielleicht darf ich dich daran erinnern, Charlie, dass du zwar zu dieser Zeit tief in deiner Affäre mit Alastair steckst, er aber gerade sicher in Argyll ist, wo er einen Werbespot für irgendein völlig wertloses Konsumprodukt dreht, und du weißt zufällig, dass er was mit der Hauptdarstellerin hat. Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte sie und stellte überrascht fest, dass sie errötete.
»Und jetzt sag mir bitte, was die Worte Palästina, Palästinenser - auf diese Weise von diesem jungen Hitzkopf ausgesprochen - an einem verregneten Abend in einem Hotel in Nottingham für dich bedeutet. Nehmen wir mal an, er fragt dich selbst danach. Jawohl. Er fragt dich. Warum nicht?«
Es wird ja immer besser, dachte sie; wie viele Seiten hat dieser Kitschroman eigentlich? »Ich bewundere Sie«, sagte sie. »Nenn mich bitte Michel.« »Ich bewundere Sie, Michel.« »Weswegen?« »Wegen Ihrer Leiden.« Sie kam sich ein bisschen albern vor. »Weil Sie nicht aufgeben.«
»Unsinn. Wir Palästinenser sind eine Bande von ungebildeten Terroristen, wir hätten uns längst mit dem Verlust unserer Heimat abfinden sollen. Wir sind nichts weiter als ehemalige Schuhputzer und Straßenhändler, jugendliche Kriminelle mit Maschinenpistolen in der Hand und alte Männer, die nicht vergessen wollen. Wer also sind wir, bitte schön? Sag mir deine Meinung. Ich werde sie zu schätzen wissen. Für mich bist du immer noch Johanna, vergiss das nicht.«
Sie holte tief Atem. Dann haben sich meine Wochenend-Seminare doch gelohnt. »Na schön. Also: Die Palästinenser -ihr - sind friedfertige, redliche Bauern mit einer großen Tradition, die man von 1948 an ungerechterweise aus ihrem Land vertrieben hat, um den Zionismus zu beschwichtigen -und um in Arabien ein Bollwerk für den Westen zu schaffen.«
»Ich finde deine Worte nicht anstößig. Bitte, fahr fort.«
Es war wunderbar zu sehen, wie viel ihr bei seinen perversen Stichworten einfiel. Bruchstücke aus vergessenen Flugblättern, Vorträge von Liebhabern, Brandreden von Freiheitskämpfern, Zitate aus flüchtig gelesenen Büchern - alle kamen wie getreue Verbündete zu ihr, jetzt, da sie sie brauchte. »Ihr seid die Erfindung eines europäischen Schuldkomplexes wegen der Juden... ihr habt die Zeche für einen Holocaust zahlen müssen, mit dem ihr nichts zu tun hattet... ihr seid die Opfer einer rassistischen, antiarabischen imperialistischen Politik der Enteignung und Vertreibung…«
»Und des Mordes«, setzte Joseph leise hinzu.
»Und des Mordes.« Wieder unsicher werdend bemerkte sie, dass die Augen des Fremden immer noch eindringlich auf sie gerichtet waren, und wie auf Mykonos wusste sie plötzlich nicht, was sie darin las. »Das jedenfalls sind die Palästinenser«, tat sie es ab. »Wenn du danach fragst. Wenn du es schon tust«, fügte sie noch hinzu, als er immer noch nichts sagte.
Sie blickte ihn weiterhin an, wartete auf das Stichwort, das ihr sagte, was sie sein sollte. Unter dem zwingenden Druck seiner Gegenwart hatte sie auf die unausgegorenen Ideen einer früheren Existenz zurückgegriffen, mit denen sie eigentlich nichts mehr zu schaffen haben wollte, es sei denn, er wollte das.
»Bedenke, dass es für ihn keinen small-talk gibt«, befahl ihr Joseph, als hätten sie sich noch nie im Leben angelächelt. »Wie schnell er an die ernsthafte Seite deines Wesens appelliert hat. In gewisser Weise ist er auch sehr penibel - so hat er zum Beispiel für heute abend alles
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