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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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herausschaute, als die beiden Wächter ihn von einem Verhör fortschafften.
    Freilich, Kurtz’ Genie ruhte nie. Als Yanuka wirklich anfing zu reden, bekam Kurtz sofort ein weiches Herz und war voller Verständnis für die Leidenschaft des jungen Mannes; plötzlich musste der alte Kerkermeister alles hören, was der große Kämpfer je zu seinem Lehrling gesagt hatte. Als Kurtz endlich wieder nach unten kam, hatte das Team folglich von Yanuka so ziemlich alles erfahren, was es zu erfahren gab - was praktisch auf überhaupt nichts hinauslief, wie Kurtz ihnen sogleich klarmachte, wenn es darum ging, festzustellen, wo sich der große Bruder nun eigentlich aufhielt. Ganz am Rande kam auch noch einmal die sprichwörtliche Weisheit des alten Aushorchers auf den Tisch: dass nämlich physische Gewalt dem Ethos und dem Geist ihres Berufes widerspreche. Das betonte Kurtz mit ganz besonderem Nachdruck Oded gegenüber, schärfte es ihnen aber auch ganz allgemein noch einmal ein. Wenn man schon Gewalt anwenden musste, manchmal bliebe einem nichts anderes übrig, dann muss man darauf achten, sie gegen den Geist zu richten und nicht gegen den Körper, sagte er. Kurtz glaubte, es gebe überall etwas zu lernen, wenn bloß die Jungen die Augen aufmachen wollten.
    Denselben Gedanken entwickelte er auch noch einmal Gavron gegenüber, allerdings mit weniger Erfolg.
    Doch selbst jetzt wollte oder konnte Kurtz noch keine Ruhe geben. In aller Herrgottsfrühe des nächsten Tages, als die Angelegenheit Yanuka bis auf die letzte Schlussforderung erledigt war, war Kurtz schon wieder im Stadtzentrum und tröstete das Überwachungsteam, dessen Stimmung nach Yanukas Verschwinden auf einen Tiefpunkt gesunken war. Was denn aus ihm geworden sei? wollte der alte Lenny verzweifelt wissen -- wo der Junge doch eine solche Zukunft habe und auf so vielen Gebieten so vielversprechend sei! Nachdem er auch hier sein barmherziges Werk vollbracht hatte, wandte Kurtz sich nach Norden, um sich nochmals mit Dr. Alexis zu treffen - völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass der vorgebliche Wankelmut des guten Doktors Misha Gavron veranlasst hatte, ihn zur persona non grata zu erklären.
    »Ich werde ihm sagen, ich bin Amerikaner«, versprach Kurtz Litvak mit einem breiten Grinsen, als er an Gavrons albernes Telegramm dachte, das er ihm in die Athener Villa geschickt hatte. Seine Stimmung war vorsichtig optimistisch. Wir kommen voran, erklärte er Litvak; und Misha schlägt mich nur, wenn ich festsitze.

Kapitel 10

    Die Taverne war uriger als die auf Mykonos, ein Schwarzweißfernseher flatterte wie eine Flagge, die niemand grüßte, die alten Gebirgsbewohner waren zu stolz, irgendwelchen Touristen Beachtung zu schenken, selbst hübschen rothaarigen englischen Mädchen in blauen Kaftans und Goldarmbändern nicht. Doch in der Geschichte, die Joseph jetzt erzählte, waren es Charlie und Michel, die allein im Grillroom eines Hotels außerhalb von Nottingham zu Abend aßen; Michel hatte die Leute bestochen, dass sie sie noch zu so später Stunde einließen. Charlies eigenes rührendes Auto hatte wieder einmal einen Defekt und stand in der Reparaturwerkstatt in Camden, auf die sie seit neuestem schwor. Aber Michel hatte eine Mercedes-Limousine; keine andere Marke gefiel ihm so gut. Er wartete damit am Hintereingang des Theaters, und er fuhr augenblicklich mit Charlie davon, zehn Minuten durch den ewigen Nottinghamer Regen. Und kein vorübergehender Koller von Charlie, ob nun hier oder dort, keine plötzlich keimenden Zweifel vermochten den Schwung von Josephs Erzählung zu nehmen. »Er hat Autohandschuhe an«, sagte Joseph. »Dafür schwärmt er. Du merkst das, sagst aber nichts dazu.«
    Mit Luftlöchern auf dem Handschuhrücken, dachte sie. »Wie fährt er?«
    »Eine Naturbegabung ist er als Autofahrer nicht gerade, aber das kreidest du ihm nicht an. Du fragst ihn, wo er lebt, und er erwidert, er sei von London heraufgefahren, eigens um dich zu sehen. Du fragst ihn nach seinem Beruf, und er sagt: ›Student.‹ Du erkundigst dich, wo er studiert: er sagt, ›in Europa‹ , und lässt irgendwie durchblicken, dass Europa so etwas wie ein Schimpfwort sei. Als du Genaueres wissen willst - aber nur nicht zu sehr bedrängen -, erklärt er, er mache ein, zwei Semester in verschiedenen Städten, je nachdem, wozu er Lust habe und wer gerade lese. Die Engländer, erklärt er, verstünden das System nicht. Und als er das Wort ›Engländer‹ ausspricht, klingt das feindselig in

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