Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
Rechnung, einverstanden?«
    Er sagte das im Ton eines Kommandeurs, den vor der Schlacht die Liebe überkommt. Und solange Misha Gavron es gestattete, fühlte er sich auch als solcher.
    Der Nachtflug von München nach Berlin ist für die wenigen, die diese Maschine nehmen, eine der letzten großen nostalgischen Reisen, die man in Europa noch machen kann. Der Orient-Express, der Goldene Pfeil und der Train Bleu mögen der Vergangenheit angehören, eingestellt oder künstlich wieder zum Leben erweckt werden, doch für diejenigen, die ihre Erinnerungen haben, sind die sechzig Minuten Nachtflug durch den ostdeutschen Korridor in einer klapprigen Pan Am-Maschine wie die Safari eines alten Afrikaners, der seinem Laster frönt. Die Lufthansa darf diese Route nicht fliegen. Sie gehört ausschließlich den Siegern, den Besatzungsmächten der ehemaligen Reichshauptstadt, den Historikern und Insel-Suchern sowie einem von Kriegsnarben gezeichneten älteren Amerikaner, der die disziplinierte Ruhe des Profis ausstrahlt und diesen Flug fast täglich macht, seinen Lieblingsplatz ebenso kennt wie den Vornamen der Stewardess, den er im schaurigen Deutsch der Besatzungszeit ausspricht. Es fehlt nicht viel, und man glaubt, dass er ihr gleich ein Päckchen Lucky Strikes zusteckt und eine Verabredung mit ihr hinter der Kantine trifft. Der Rumpf knarrt und hebt und senkt sich, die Lampen flackern, und man kann es kaum fassen, dass es sich nicht um eine Propellermaschine handelt. Man starrt hinaus ins verdunkelte Feindesland - um Bomben abzuwerfen, um abzuspringen? -, man hängt seinen Erinnerungen nach und bringt die Kriege durcheinander, die man mitgemacht hat: Dort unten jedenfalls ist die Welt in einem unbehaglichen Sinne noch so, wie sie war. Kurtz war da keine Ausnahme. Er saß an seinem Fenster und blickte an seinem Spiegelbild vorbei in die Nacht hinaus. Wie immer, wenn er diesen Flug machte, wurde er zum Betrachter, der sein eigenes Leben an sich vorüberziehen sieht. Irgendwo dort in der Schwärze lag jene Eisenbahnstrecke, auf der der Güterzug auf seiner langsamen Fahrt aus dem Osten herangerollt war, irgendwo auch jenes Nebengleis, auf dem er mitten im Winter fünf Nächte und sechs Tage stillgelegen hatte, um die Militärtransporte vorbeizulassen, die so viel wichtiger waren als ihr Zug, und wo Kurtz und seine Mutter und die hundertachtzehn anderen Juden, die in ihren Waggon gepfercht worden waren, Schnee aßen und froren - die meisten von ihnen sich zu Tode froren. »Im nächsten Lager ist es bestimmt besser«, hatte seine Mutter ihm immer versichert, damit ihm nicht der Mut sank. Und irgendwo in dieser Schwärze hatte seine Mutter dann in einer Reihe mit anderen widerstandslos ihren Weg in den Tod angetreten. Irgendwo dort draußen auf den Feldern hatte der Sudetenjunge, der er gewesen war, gehungert und gestohlen und getötet und illusionslos gewartet, dass eine andere feindliche Welt ihn finde. Er sah das Auffanglager der Alliierten, die fremden Uniformen, die Kindergesichter, so alt und so hohl wie sein eigenes. Ein neuer Mantel, neue Schuhe und neuer Stacheldraht - und eine neue Flucht, diesmal vor seinen Rettern. Er sah sich wieder auf den Feldern, wie er sich wochenlang Richtung Süden von einem Bauernhof zum nächsten Dorf durchgeschlagen hatte, immer auf der Fluchtroute, die ihm angegeben worden war, bis nach und nach die Nächte wärmer geworden waren und nach Blumen geduftet hatten und er zum ersten Mal in seinem Leben das Rauschen von Palmen im Meereswind vernommen hatte. »Hör zu, du durchgefrorener kleiner Junge«, hatten sie ihm zugewispert, »so rauschen wir in Israel. Genauso blau wie hier ist auch dort das Meer.« Er sah den abgetakelten Dampfer plump neben dem Pier schwimmen, das größte und schönste Schiff, das er je zu Gesicht bekommen hatte und das, als er an Bord ging, so schwarz war von jüdischen Köpfen, dass er sich eine Pudelmütze klaute und sie trug, bis sie den Hafen verlassen hatten. Aber sie brauchten ihn, ob er nun blond war oder nicht. An Deck gaben die Anführer ihnen in kleinen Gruppen Schießunterricht mit gestohlenen Lee Enfield-Gewehren. Haifa war noch zwei Tage entfernt, und Kurtz’ Krieg hatte gerade erst begonnen.
    Das Flugzeug flog eine Schleife und setzte zur Landung an. Er spürte, wie die Maschine in Schräglage ging und über die Mauer flog. Er hatte nur Handgepäck, doch wegen der Terroristen waren die Sicherheitsvorkehrungen streng, und so dauerten die Formalitäten

Weitere Kostenlose Bücher