Die Libelle
Unerklärte Damen schienen hier häufig ein und aus zu gehen.
Auf dem zweiten Treppenabsatz hörte sie Musik und Frauenlachen; auf dem dritten wurde sie vom Aufzug überholt und fragte sich, warum er sie die Treppe hatte nehmen lassen, doch sie hatte keinen Willen mehr, keine Widerstandskraft; ihr ganzer Text und alles, was sie tat, war für sie geschrieben worden. Von dem Karton schmerzten ihre Arme, und als sie den Korridor des vierten Stocks erreicht hatte, war der Schmerz ihre größte Sorge. Die erste Tür war ein Notausgang, und die zweite, gleich daneben, trug die Nummer 5. Der Aufzug, der Notausgang, die Treppe, dachte sie automatisch; er hat mindestens immer zweierlei.
Sie klopfte, die Tür ging auf, und ihr erster Gedanke war: Ach, typisch, jetzt habe ich alles verpatzt. Denn der Mann, der vor ihr stand, war derselbe, der sie soeben im Coca-ColaWagen hergefahren hatte, nur, dass er nichts auf dem Kopf trug und an der linken Hand keinen Handschuh. Er nahm ihr die Brille ab, legte sie zusammen und gab sie ihr dann zurück. Nachdem er das getan hatte, nahm er ihr noch mal die Schultertasche ab und entleerte den Inhalt auf die billige rosa Daunendecke, ganz ähnlich wie in London, als sie ihr die dunkle Brille aufgesetzt hatten. Ungefähr der einzige Gegenstand im Zimmer mit Ausnahme des Bettes war die Aktentasche. Sie lag auf dem Waschtisch, leer, das schwarze Maul ihr zugewandt, als wollte es nach ihr schnappen. Es war die Tasche, die Professor Minkel zu stehlen sie geholfen hatte, dort in dem en Hotel mit dem Zwischenstock, als sie noch zu jung gewesen war, um es besser zu wissen.
Völlige Stille hatte sich über die drei Männer in der Einsatzzentrale gelegt. Keine Anrufe, nicht einmal von Minkel und Alexis; keine verzweifelten Widerrufe über die abhörsichere Telefonverbindung mit der Botschaft in Bonn. Die ganze so verschlungene Verschwörung hielt in ihrer gemeinsamen Vorstellung den Atem an. Litvak saß verzagt in sich zusammengesunken auf einem Bürostuhl; Kurtz schwamm in einer Art sonnigem Traum, hatte die Augen halb geschlossen und lächelte wie ein alter Alligator. Und Gadi Becker – wie immer der stillste von ihnen - starrte selbstkritisch in die zunehmende Dunkelheit hinaus, wie jemand, der sämtliche Versprechen seines bisherigen Lebens an sich vorüberziehen lässt - welche hatte er gehalten? Welche gebrochen?
»Wir hätten ihr den Sender schon jetzt geben sollen«, sagte Litvak. »Sie trauen ihr jetzt. Warum haben wir ihr nicht den Sender gegeben - dann wüssten wir jetzt genau, wo sie ist.«
»Weil er sie durchsuchen wird«, sagte Becker. »Er wird sie nach Waffen und Drähten durchsuchen, und er wird sie nach einem Sender durchsuchen.«
Litvak erhob sich weit genug, um Einspruch zu erheben. »Warum sie dann überhaupt einsetzen? Ihr seid verrückt. Warum ein Mädchen einsetzen, dem man nicht traut - und das bei einem Unternehmen wie diesem?«
»Weil sie noch nicht getötet hat«, sagte Becker. »Weil sie sauber ist. Deshalb bedienen sie sich ihrer, und deshalb trauen sie ihr nicht, aus ein und demselben Grund.«
Kurtz’ Lächeln wurde fast menschlich. »Sobald sie die erste Beute geschlagen hat, Shimon. Sobald sie kein Anfänger mehr ist. Sobald sie für alle Ewigkeit auf der falschen Seite des Gesetzes steht, bis zum Tode eine Illegale ist - dann , aber erst dann werden sie ihr trauen. Dann trauen ihr alle«, versicherte er Litvak zufrieden. »Ab heute abend neun Uhr wird sie eine von ihnen sein - kein Problem, Shimon, kein Problem.« Litvak war immer noch nicht getröstet.
Kapitel 25
Und noch einmal, er war schön. Er war Michel, ganz ausgewachsen, mit Josephs Enthaltsamkeit und Anmut und Tayehs durch keinerlei Skrupel angekränkeltem Absolutheitsanspruch. Er war alles, was sie sich vorgestellt hatte, als sie ihn sich als jemand ausgemalt hatte, auf den sie sich freute. Er war breitschultrig, hatte feingemeißelte Züge und den Seltenheitswert eines kostbaren Gegenstandes, den man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Er hätte kein Restaurant betreten können, ohne dass die Unterhaltung ringsum verstummt wäre, oder es verlassen, ohne dass man in seinem Kielwasser nicht erleichtert aufgeatmet hätte. Er war ein Mann, der es eigentlich gewöhnt war, im Freien zu leben, jetzt aber dazu verdammt, sich in kleinen Räumen zu verstecken, und hatte daher die Blässe dunkler Verliese.
Er hatte die Vorhänge vorgezogen und die Nachttischlampe angeknipst. Es war kein Stuhl für sie da,
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