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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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er es wieder in die Tasche fallen ließ und die Tasche in den Wagen warf. Dann, wie ein Lehrer im Anstandsunterricht, der ihre Haltung korrigiert, legte er ihr die Spitzen seiner behandschuhten Hand an die Schultern und richtete sie auf. Die ganze Zeit über lag sein dunkler Blick auf ihrem Gesicht. Sein rechter Arm hing herunter, und mit der Handfläche der linken Hand tastete er leicht ihren Körper ab, erst Hals und Schultern, dann Schlüsselbein und Schulterblätter, betastete vor allem die Stellen, wo die Träger ihres BHs gewesen wären, wenn sie einen getragen hätte. Dann ihre Achselhöhlen und die Seiten bis hinunter zu den Hüften; ihre Brüste und den Bauch.
    »Heute morgen im Hotel hast du das Armband am rechten Arm getragen. Heute Abend trägst du es am linken. Warum?« Sein Englisch klang ausländisch, gebildet und höflich; sein Akzent, soweit sie es beurteilen konnte, arabisch. Eine weiche, jedoch kräftige Stimme; die Stimme eines Redners.
    »Ich trag’ es mal da und mal da.«
    »Warum?« wiederholte er.
    »Damit es sich neu anfühlt.«
    Er hockte sich vor sie und erforschte Hüften und Beine und die Innenseite ihrer Schenkel mit derselben minuziösen Aufmerksamkeit wie alles andere; dann - immer nur mit der linken Hand -drückte er vorsichtig an ihren neuen Pelzstiefeln herum.
    »Weißt du, wie viel es wert ist, dieses Armband?« fragte er und richtete sich wieder auf.
    »Nein.«
    »Bleib still stehen.«
    Er stand hinter ihr: der Rücken, das Gesäß, wieder die Beine bis hinunter zu den Stiefeln.
    »Du hast es nicht versichern lassen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Michel hat es mir aus Liebe gegeben. Nicht für Geld.«
    »Steig ein.«
    Sie tat es; er ging vorn herum und kletterte neben ihr herein.
    »Okay. Ich bring dich zu Khalil.« Er ließ den Motor an. »Lieferung frei Haus. Okay?«
    Der Lieferwagen war mit einem automatischen Getriebe ausgestattet. Ihr fiel auf, dass er hauptsächlich mit der linken Hand steuerte, während die Rechte auf seinem Schoß lag. Das Klirren des Leerguts hinten überraschte sie vollkommen. Er erreichte eine Kreuzung, bog nach links in eine Straße ein, die genauso schnurgerade war wie die erste, nur, dass sie keine Straßenbeleuchtung hatte. Sein Gesicht, soweit sie etwas davon sehen konnte, erinnerte sie an Josephs, nicht so sehr in den Zügen, sondern wegen der Intensität darin und der angespannten Winkel seiner Kämpferaugen, die ständig die drei Spiegel des Wagens und auch noch sie selbst im Auge behielten.
    »Magst du Zwiebeln?« fragte er über das Geklirr der Flaschen hinweg. »Sehr sogar.«
    »Kochst du gern? Was kochst du? Spaghetti? Wiener Schnitzel?«
    »Solche Sachen.«
    »Was hast du für Michel gekocht?«
    »Steak.«
    »Wann?«
    »In London. In der Nacht, als er in meiner Wohnung blieb.«
    »Keine Zwiebeln?« fragte er.
    »Nur im Salat«, sagte sie.
    Sie fuhren wieder zurück in Richtung Stadt. Der Lichtschimmer, der von ihr ausging, bildete eine rosige Wand unter den schweren Abendwolken. Sie fuhren einen Hügel hinab und gelangten in ein flaches, sich weithin dehnendes Tal, das plötzlich keinerlei Form hatte. Sie sah halbgebaute Fabriken und riesige, kaum belegte Lastwagen-Parkplätze. Keine Geschäfte, keine Kneipen, nirgendwo ein Licht im Fenster. Sie fuhren auf einen betonierten Vorhof.
    Er brachte den Lieferwagen zum Stehen, stellte jedoch den Motor nicht ab. HOTEL GARNI EDEN, las sie in roten Neonlettern, und über dem grellfarbigen Tor: Willkommen! Bienvenu! Wellcome!
    Als er ihr die Schultertasche reichte, hatte er einen Einfall. »Hier - gib ihm die auch noch. Er mag sie auch«, sagte er und angelte den Zwiebelkarton zwischen den Kisten mit den leeren Flaschen heraus. Als er ihn ihr auf den Schoß fallen ließ, fiel ihr wieder die Regungslosigkeit seiner behandschuhten Rechten auf. »Zimmer fünf, vierter Stock. Die Treppe. Nicht den Fahrstuhl nehmen! Mach’s gut!«
    Bei laufendem Motor sah er sie über den Vorhof auf den beleuchteten Eingang zugehen. Der Karton war schwerer, als sie erwartet hatte, und sie musste ihn mit beiden Armen tragen. Die Halle war leer, der Aufzug stand wartend da, doch sie nahm ihn nicht. Die Treppe war schmal und gewunden, der Teppich abgetreten. Die Musik vom Band klang irgendwie keuchend, die stickige Luft roch nach billigem Parfüm und kaltem Zigarettenrauch. Auf dem ersten Treppenabsatz rief eine alte Frau ihr aus dem Inneren ihres gläsernen Kabäuschens ein Grüß Gott! zu, hob jedoch nicht den Kopf.

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