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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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wolkenverhangenen Himmel, an dem es unruhig zuckte. Sie blickte sich um und sah, dass der Münsterturm ihr folgte.
    Sie bog nach rechts ab und ging so langsam wie nie zuvor in ihrem Leben eine dicht belaubte Straße mit herrschaftlichen Villen hinunter. Jetzt zählte sie für sich selbst. Zahlen. Jetzt sagte sie Verse auf. Jose geht in die Stadt. Jetzt dachte sie wieder daran, was im Vorlesungsgebäude geschehen war, doch ohne Kurtz, ohne Joseph und ohne die mörderischen Techniker von zwei unversöhnlichen Parteien. Vor ihr schob Rossino schweigend sein Motorrad aus einer Toreinfahrt heraus. Sie ging auf ihn zu, er reichte ihr einen Helm und eine Lederjacke, und als sie anfing, sich anzuziehen, bewog sie irgend etwas, sich umzudrehen und in die Richtung zurückzublicken, aus der sie kam. Sie sah ein träges orangefarbenes Aufglühen über die feuchten Pflastersteine auf sich zukommen wie den Strahl der untergehenden Sonne und stellte fest, wie lange der Eindruck davon im Auge blieb, nachdem es schon längst verschwunden war. Dann endlich hörte sie den Laut, den sie völlig benommen erwartet hatte: einen fernen, zugleich vertrauten dumpfen Ton, als ob tief in ihr etwas gerissen wäre, das nicht mehr zusammenzunähen war; das genaue und bleibende Ende der Liebe. Hm, Joseph, ja. Leb wohl!
    Genau im selben Augenblick sprang Rossinos Maschine an und zerriss mit ihrem röhrenden, triumphierenden Gelächter die feuchte Nacht. Ich auch, dachte sie. Das ist der komischste Tag in meinem ganzen Leben.
    Rossino fuhr langsam, hielt sich an kleine Straßen und folgte einer sorgsam ausgeklügelten Route.
    Du fährst, ich folge. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich Italienerin werde.
    Ein warmer Sprühregen hatte den größten Teil des Schnees wegschmelzen lassen, doch er fuhr vorsichtig mit Rücksicht auf die schlechte Beschaffenheit der Straße und auf seine wichtige Beifahrerin. Er schrie ihr etwas Freudiges zu und schien sich großartig zu amüsieren, doch sie war nicht daran interessiert, seine gute Laune zu teilen. Sie fuhren durch ein großes Tor hindurch, und sie rief: »Ist es hier?« Dabei hatte sie keine Ahnung, und es war ihr auch egal, was sie mit ›hier‹ gemeint haben könnte, aber das Tor führte zu einer ungeräumten Straße über Berge und Täler eines Privatwaldes, und sie durchquerten diese allein unter einem hüpfenden Mond, der doch sonst Josephs Privateigentum gewesen war. Sie blickte in die Tiefe und sah ein schlafendes Dorf, das in ein weißes Tuch gehüllt war; sie roch griechische Fichten und spürte, wie der Wind ihr die Tränen aus dem Gesicht blies. Sie hielt Rossinos zitternden, ihr fremden Körper an sich gedrückt und sagte zu ihm: Bediene dich, es ist nichts übrig geblieben.
    Sie fuhren einen letzten Hügel hinunter, kamen zu einem anderen Tor hinaus und gelangten auf eine Straße, an der links und rechts nackte Lärchen wie die Bäume bei Familienferien in Frankreich standen. Wieder ging es bergauf, und als sie die Kuppe erreicht hatten, stellte Rossino den Motor ab und wollte einen Fußpfad hinunter, der in den Wald führte. Er machte eine Satteltasche auf und zog ein Bündel Kleider und eine Handtasche hervor und warf ihr alles zu. Er hielt eine Taschenlampe, in deren Lichtstrahl er sie beobachtete, während sie sich umzog, und einen Augenblick lang stand sie halbnackt vor ihm.
    Wenn du mich willst, dann nimm mich: ich bin nicht gebunden und bin zu haben.
    Sie war ohne Liebe und für sich ohne Wert. Sie war wieder dort, wo sie angefangen hatte, und die ganze Scheißwelt konnte sie vögeln. Sie schüttete ihre Siebensachen von einer Tasche in die andere, Puderdose, Tampons, ein paar Münzen, ihr Päckchen Marlboros. Und ihren billigen Radiowecker für die Proben - drück auf den Lautstärkeregler, Charlie, hörst du! Rossino nahm ihren alten Paß und gab ihr einen neuen, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, was für eine Staatsangehörigkeit sie jetzt hatte.
    Bürgerin von Nirgendwo, geboren gestern.
    Er sammelte ihre alten Kleider ein und stopfte sie zusammen mit ihrer alten Schultertasche und der Brille in die Satteltasche. Warte hier, aber blick auf die Straße, sagte er. Er wird zweimal mit einem roten Licht blinken. Er war kaum fünf Minuten fort, da sah sie es durch die Bäume blinken. Hurra, endlich ein Freund.

Kapitel 26

    Khalil nahm ihren Arm und trug sie fast zu dem blitzenden neuen Wagen, denn sie weinte und zitterte so sehr am ganzen Körper, dass sie

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