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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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kaum laufen konnte. Nach der bescheidenen Kleidung eines Lastwagenfahrers schien er sich als unerschütterlicher deutscher Manager verkleidet zu haben: weicher schwarzer Mantel, Hemd und Krawatte, gepflegt zurückgekämmtes schwarzes Haar. Er machte ihren Wagenschlag auf, zog den Mantel aus und legte ihn fürsorglich um sie, als wäre sie ein krankes Tier. Sie hatte keine Ahnung, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, doch ihr Zustand schien ihn nicht so sehr zu schockieren, sondern ihm eher Respekt abzuverlangen. Der Motor lief bereits. Er drehte die Heizung voll auf.
    »Michel wäre stolz auf dich«, sagte er freundlich und betrachtete sie einen Moment im Innenlicht. Sie wollte etwas sagen, brach aber wieder in Weinen aus. Er reichte ihr ein Taschentuch; sie hielt es in beiden Händen, drehte es sich um die Finger, und die Tränen rannen und rannen. Sie fuhren den bewaldeten Hang hinunter. »Was ist geschehen?« fragte sie im Flüsterton. »Du hast einen großen Sieg für uns errungen. Minkel starb beim Öffnen der Aktentasche. Wie es heißt, sollen andere Freunde des Zionismus schwer verwundet sein. Sie zählen noch.« Er sagte es mit wilder Genugtuung. »Sie sprechen von einer Ungeheuerlichkeit. Von Schock. Kaltblütigem Mord. Sie sollten sich eines Tages mal Rashidiyeh ansehen. Ich lade die ganze Universität ein. Sie sollten in den Bunkern hocken und beim Rauskommen mit dem Maschinengewehr niedergemäht werden. Man sollte ihnen die Knochen im Leib zerbrechen und sie zusehen lassen, wie ihre Kinder gefoltert werden. Morgen wird die ganze Welt lesen, dass die Palästinenser nicht die armen Schwarzen von Zion werden.«
    Die Heizung war stark, aber immer noch nicht stark genug. Sie zog seinen Mantel enger um sich. Die Revers waren aus Samt, und sie roch, wie neu er war.
    »Möchtest du mir erzählen, wie es gegangen ist?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Die Sitze waren kuschelig und weich, der Motor summte leise. Sie lauschte auf das Geräusch anderer Autos, hörte jedoch nichts. Sie blickte in den Spiegel. Nichts hinter ihnen, nichts vor ihnen. Wann denn endlich wieder? Sie fing Khalils dunklen Blick auf, er starrte sie an.
    »Keine Angst. Wir kümmern uns um dich. Das verspreche ich. Ich bin froh, dass du traurig bist. Andere, die haben gelacht und triumphiert, nachdem sie getötet hatten. Haben sich betrunken und sich die Kleider zerrissen wie die Tiere. All das habe ich erlebt. Aber du - du weinst. Das ist sehr gut.« Das Haus lag an einem See, und der See in einem steil abfallenden Tal. Khalil fuhr zweimal vorüber, ehe er in die Einfahrt einbog, und seine Augen, die die Straße absuchten, waren wie Josephs Augen: dunkel, wachsam, alles sehend. Es war ein moderner Bungalow, der zweite Wohnsitz eines reichen Mannes: weißgeschlämmte Mauern, maurische Fenster und ein sanft geneigtes Dach - rot dort, wo der Schnee heruntergerutscht war. Die Garage war ans Wohnhaus angebaut. Er fuhr hinein, und die Türen schlossen sich. Er stellte den Motor ab und zog eine automatische Pistole mit langem Lauf aus der Jackentasche. Khalil, der einhändige Schütze. Sie blieb im Auto, starrte auf die Rodelschlitten und das Feuerholz, das an der Rückwand aufgestapelt war. Er machte ihr den Wagenschlag auf. »Geh hinter mir her. Drei Meter Abstand, nicht näher.« Eine Stahltür führte auf einen Gang. Sie wartete, folgte ihm dann. Die Wohnzimmerlampen waren schon an, Holzscheite brannten auf dem Kaminrost. Ein mit Ponyfell bespanntes Sofa. Die Einrichtung rustikal, doch elegant. Ein Tisch mit dicker Holzplatte, für zwei gedeckt. In einem Eiskübel auf schmiedeeisernem Ständer eine Flasche Wodka.
    »Bleib hier«, sagte er.
    Die Handtasche mit beiden Händen gepackt, stand sie in der Mitte des Raums, während er von Zimmer zu Zimmer ging, und zwar so leise, dass das einzige, was sie hörte, das Offnen und Schließen von Schränken war. Sie begann wieder heftig zu zittern. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, legte die Pistole weg, kniete sich vorm Kamin hin und machte sich daran, die Scheite so aufzubauen, dass das Feuer hell loderte. Um die Raubtiere fernzuhalten, dachte sie, als sie ihm zusah. Und die Schafe zu schützen. Das Feuer prasselte, und sie setzte sich auf das Sofa davor. Er drehte den Fernseher an: Es gab einen alten Schwarzweißfilm vom Wirtshaus auf dem Berg. Den Ton drehte er nicht an. Er stellte sich vor sie.
    »Möchtest du einen Wodka?« fragte er höflich. »Ich trinke nicht, aber du sollst dir keinen

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