Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
endlich ihr Gemach betrat, die Wildlederschuhe achtlos beiseite schleuderte und mit den Zehen in dem weichen Teppich versank, der vor der Feuerstelle lag. Sie hatte gemeinsam mit Lucia für Joy eine Gutenachtgeschichte erfunden und da sich Lucia und sie selbst mit immer tolleren Einfällen überboten hatten, war Joy nicht müder geworden, sondern im Gegenteil immer aufgeregter. Crystal lächelte ihrem Spiegelbild zu, als sie vor ihrem Schminktisch Platz nahm. Der Schrecken des Nachmittags war vergessen und als sie jetzt die schweren Locken löste und geduldig begann ihr Haar auszubürsten, fühlte sie ein fast unerträgliches Glücksgefühl in ihrer Brust. Sie zweifelte nicht daran, dass ihr Bruder ihre Entscheidung billigen würde, dafür würde Lucia schon sorgen. Rhys’ Frau war ihre beste Freundin und Hüterin ihrer geheimsten Gedanken. Lucia wusste, dass Crystal davon träumte zu den Liedsängern des Nordens zu reisen, um dort neue Lieder zu lernen – und Crystal wusste, dass sich Lucia nichts sehnlicher wünschte als ein zweites Kind.
Ein leises Klopfen schreckte Crystal aus ihren Gedanken. Ruckartig hob sie den Kopf und als sich die Bürste in ihren Locken verfing, schrie sie vor plötzlichem Schmerz wütend auf. Anstatt einer Antwort auf sein Klopfen erhielt Rhys also einen wütenden Aufschrei, was ihn aber nicht daran hinderte das Gemach zu betreten. „Alles in Ordnung?“
„ Komm herein, Rhys“, seufzte Crystal resigniert und legte den Kamm beiseite. Ihr Bruder durchmaß mit raschen Schritten den Raum und nahm ganz in ihrer Nähe auf der Bettkante Platz. „Ich nehme an, dass du der Grund für Thorbens überstürzten Aufbruch bist“, begann er ohne Einleitung.
Crystal musterte ihren Bruder. Er wirkte eigentlich nicht wütend, nur neugierig. Vermutlich hatte Lucia schon mit ihm gesprochen. „Er hat versucht mich zu küssen“, entfuhr es ihr entrüstet.
Rhys lachte leise. „Ich muss gestehen, ich kann deine Empörung nicht ganz nachvollziehen. Ich für meinen Teil küsse ganz gern und du bist wahrlich alt genug. Ein bisschen Übung würde dir nicht schaden.“
„ Rhys!“, rief Crystal empört aus. Es dauerte einen Moment bis sie begriff, dass ihr Bruder sie nur aufzog. Dann lachte sie gutmütig und drohte ihm mit dem Kamm. „Ich weiß doch, dass du Thorben gut leiden kannst und ich habe ja auch nichts gegen ihn. Eigentlich. Doch ich bin nun mal nicht in ihn verliebt und du schlägst doch wohl nicht vor, dass ich ihn trotzdem heiraten soll, oder?“ Crystal konnte sehen, dass Rhys die Brauen gerunzelt hatte. Sie spielte ihre Trumpfkarte aus. „Gerade du solltest doch verstehen, dass ich nur aus Liebe heiraten möchte!“ Rhys’ Gesichtsausdruck wurde merklich sanfter. Es war kein Geheimnis, dass sich die schöne Lady Lucia und der Lord des Kornthals vor Jahren Hals-über-Kopf ineinander verliebt hatten.
„ Du weißt, dass ich dich nie zu einer Entscheidung drängen würde, die dich unglücklich macht“, meinte Rhys schließlich. Crystal nickte dankbar und lächelte ihren Bruder an.
Plötzlich wurde die Tür so ungestüm aufgerissen, dass die Geschwister erschrocken herumfuhren. Lady Lucia stürmte im Nachtgewand und mit gelöstem Haar in Crystals Gemach. Crystal kannte ihre Schwägerin zu gut, um den gehetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu missdeuten: irgendetwas war passiert.
Rhys sprang beim Anblick seiner Frau auf und machte unwillkürlich ein paar Schritte auf sie zu. „Um der Weisheit Talos’ Willen, was ist denn passiert?“, rief er erschrocken aus. Crystal war nicht fähig irgendetwas zu sagen – vor lauter Schreck war ihr der Hals wie zugeschnürt.
„ Es sind Fremde in der Burg, Rhys“, stieß Lucia hervor, als sie in die Arme ihres Mannes sank. „Ich wollte nach Joy sehen und da waren diese dunkle Gestalt – Rhys, ich glaube, sie hatte ein Messer!“
Rhys warf Crystal einen beunruhigten Blick zu und streichelte seiner Frau über den Rücken. „Bist du dir sicher? Ich meine, kann es nicht sein, dass du dich getäu…“
Noch bevor Rhys den Satz vollenden konnte, barsten die beiden Fenster des Gemaches mit einem lauten Klirren. Zwei schlanke Gestalten schwangen sich durch die Öffnungen und zogen noch im Fallen seltsam gebogene Schwerter, die sie an den Hüften getragen hatten. Crystals Augen wurden groß. Nicht einmal bei den geschicktesten Gauklern hatte sie je so eine Körperbeherrschung gesehen. Es dauerte nur einen Augenblick und die beiden seltsam gewandeten
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