0619 - Killer-Blasen
Neben mir stand Wladimir Golenkow und weinte. Ja, dieser hartgesottene KGB-Mann konnte das Weinen nicht zurückhalten. Nicht laut, es war ein stilles, verzweifeltes Schluchzen, mehr ein Zucken, das über sein Gesicht und den Rücken lief.
Es war Schnee gefallen. Er bedeckte die Stätte des Grauens wie ein dünnes Leichentuch. Auch ich war geschockt, stand auf dem Fleck statuengleich und schaute mit leerem Blick in die Ferne, ohne überhaupt irgend etwas wahrzunehmen. Den Kragen der dicken Winterjacke hatte ich hochgestellt, um mich vor dem Wind zu schützen.
Auf meinem Kopf saß eine Pelzmütze, die Ohrenklappen hingen nach unten. Ein breiter Schal umschlang meinen Hals wie eine grüne Schlange.
»Ich habe es zuerst nicht glauben können und wollen, John, aber du siehst es selbst. Es ist unbeschreiblich. Keiner der Bewohner hat überlebt.«
Ich nickte nur und ging einige Schritte vor. Die Straße war nicht asphaltiert, sie bestand aus festgestampfter Erde. Im Sommer, wenn es regnete, verwandelte sie sich bestimmt in eine gewaltige Schlammbahn, jetzt lag der Schnee auf dem gefrorenen Untergrund und füllte die tiefen Mulden der Reifenspuren.
Es hatte die Menschen überall erwischt. In ihren Häusern und auch davor. Nicht weit von mir entfernt stand ein Leiterwagen, mit dem die Bauern auf die Felder fuhren. Der Lenker saß noch auf dem Bock, nur nicht mehr als normaler Mensch oder »normaler« Toter, nein, er war zu einem Skelett geworden.
Ich steuerte ihn an. Unter meinen Füßen knirschte der Schnee, zerbrachen kleine Eisklumpen wie sprödes Glas. Ein bestimmter Verdacht war in mir hochgekeimt. Bevor ich ihn aussprach, wollte ich mir den Toten aus der Nähe betrachten.
Er saß noch auf dem Bock. Der Schnee hatte über das Gerippe eine dünne Schicht gelegt. Ich stäubte sie an einigen Stellen ab und pulte die Kristalle aus den leeren Augenhöhlen.
Die blanken Knochen schimmerten, als wären sie geschmirgelt worden. Ein Pferd hatte noch im Geschirr gestanden. Es war zusammengebrochen, seine Knochen lagen ebenfalls verdreht auf dem Boden.
Hinter mir hörte ich die Schritte des Russen. »Na, Towaritsch, hast du etwas entdeckt?«
»Das kann ich wohl sagen. Es war gut, daß du mich geholt hast, Wladimir.«
»Weshalb?«
Mein Lachen klang in der kalten Luft scharf. »Ich habe nämlich einen bestimmten Verdacht. Je länger ich mir das Skelett anschaue, um so mehr verhärtet sich mein Eindruck.«
»Bitte, sag schon.«
Ich schaute den blonden Russen mit den kantigen Gesichtszügen an. »Der Todesnebel, Wladimir. Es muß der verfluchte Todesnebel gewesen sein. Eine andere Erklärung habe ich dafür nicht.«
Er nickte nur. Wahrscheinlich hatte er gar nichts begriffen.
»Du willst eine Erklärung?«
»Sicher.«
Ich hob die Schultern und schaute gegen den bleigrauen Himmel.
Es würde noch mehr Schnee geben, das stand für mich fest, aber konnte ich meinem Freund aus Rußland überhaupt eine Erklärung geben? Der Todesnebel, vorausgesetzt, er hatte hier zugeschlagen, war etwas besonders Schlimmes, etwas Furchtbares, denn dieser Nebel brachte es fertig, den Menschen die Haut von den Knochen zu lösen und nur das Gerippe zurückzulassen. Es gab praktisch kein Mittel gegen ihn, bis auf wenige Ausnahmen, zu denen mein Kreuz gehörte.
Der Todesnebel konnte von einem bestimmten Gegenstand produziert werden, dem Würfel des Unheils. Der wiederum befand sich im Besitz eines mächtigen Dämons, dem Spuk. Sollte diese furchtbare Gestalt hier ihre Finger im Spiel gehabt haben?
Noch hatte ich nicht den Beweis. Mir fehlte zudem das Motiv. Was hier geschehen war, das sah nach einer willkürlichen Zerstörung aus. So gefährlich der Spuk auch sein mochte, ich traute ihm diesen Überfall eigentlich nicht zu.
Ich schaute Wladimir Golenkow vor meiner nächsten Frage an.
»Ihr habt nicht herausbekommen, wann genau dieser fürchterliche Vorfall passierte?«
»Nein, John, das haben wir nicht. Vielleicht sind es einige Tage her, vielleicht schon Wochen. Jäger entdeckten die Toten. Himmel, wir befinden uns hier in der Einöde der gewaltigen Wälder. Ein paar Kilometer entfernt liegt die finnische Grenze. Hier kannst du tagelang durch Buchenwälder laufen, ohne daß du einem Menschen begegnest. Es gibt eine Straße, die zur Grenze führt. Diese Menschen hier leben vom Holzabbau, es hat sie überrascht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Auf einmal sind sie gestorben.«
»Ja, das stimmt. Der Nebel, der Todesnebel, produziert durch
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