Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
Gestalten standen vor ihnen, die beiden Klingen vor der Brust gekreuzt. Crystal hatte sich unwillkürlich näher an ihren Bruder und Lucia heran geschoben. Die Panik, die sie selbst empfand, spiegelte sich in den Gesichtern ihrer Verwandten wieder. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle hoch, doch noch bevor sie den Mund öffnen konnte, flog die Tür ein zweites Mal mit lautem Krachen gegen die Wand und eine weitere Gestalt betrat Crystals Schlafraum. Ihre dunklen Augen überflogen rasch das Gemach. „Welche der Beiden?“ Die Gestalten vor den Fenstern zuckten leicht mit den Schultern. Rhys packte den Stuhl, der vor Crystals Schminktisch stand und versuchte mit der anderen Hand Lucia und seine Schwester hinter sich zu schieben. Ein Stuhl gegen sechs Klingen! Panik stieg in Crystal hoch. Dieser Kampf war nicht zu gewinnen. Vielleicht konnte man mit ihnen reden... Crystal setzte zum Sprechen an, doch die Gestalt an der Tür kam ihr zuvor. „Dann eben Beide.“ Das Knirschen von Glas unter leisen Fußsohlen ließ Crystal herumfahren. Die beiden Gestalten vor den Fenstern bewegten sich langsam auf sie zu, die Schwerter gegen Rhys gerichtet, der instinktiv den Stuhl in die Höhe riss. Ein Splittern ertönte, als sich die erste Klinge tief in das Holz grub und sich dort verhakte. Der zweite Angreifer wandte sich ebenfalls Rhys zu, die Waffen zum Schlag erhoben.
Crystal sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln; gleich darauf drängte sich Lucia an ihr vorbei um ihrem Mann zu helfen, den Schürhaken, den sie aus der Halterung neben dem Kamin gelöst hatte, mit beiden Händen fest umklammernd. Keinen Augenblick zu früh, denn der zweite Angreifer hatte Lucia als neue Bedrohung erkannt und wandte sich gegen sie.
Ein triumphierender Aufschrei von Rhys zog Crystals Aufmerksamkeit erneut auf ihren Bruder. Er hatte den Stuhl mit solcher Kraft nach oben geschwungen, dass seinem Gegner das im Holz verhakte Schwert aus der Hand gerissen worden war. Crystal wollte schon erleichtert aufatmen – bis sie sah, dass das zweite Schwert von Rhys’ Angreifer direkt auf die ungeschützte Brust ihres Bruders zielte. Sie musste ihm helfen! Blindlings griff sie nach dem ersten Gegenstand, der auf dem Schminktisch neben ihr lag – es war die Specksteindose, die sie von ihrer Mutter zum elften Geburtstag geschenkt bekommen hatte! „Lucis, hilf’!“, flehte sie im Stillen, als sie Rhys’ Gegner mit aller Kraft die Dose entgegenschleuderte. Die Göttin schien ihr gewogen. Das schwere Gefäß traf die Gestalt mit solcher Wucht an der Stirn, dass sie mit einem leisen Stöhnen zu Boden ging. Im Fallen rutschte das Tuch über ihrem Mund beiseite – und eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte Crystal. Frauen! Es waren Frauen! Unwillkürlich flog ihr Blick zu dem Angreifer, der zuletzt ihr Gemach betreten hatte. Immer noch stand die Frau – wie hatte sie nicht erkennen können, dass es sich um Frauen handelte! – scheinbar unbewegt bei der Tür, doch als sich nun ihre Blicke kreuzten, sah Crystal eine solch mörderische Wut in den dunklen Augen aufblitzen, dass sie begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Das Scharren von Metall auf Metall und ein erschrockenes Keuchen ließen Crystal herumfahren. Der Schürhaken entglitt Lucias Händen und fiel zu Boden. Ein Schmerzensschrei drang an Crystals Ohren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen wandte sie ihren Blick Lucia zu, obwohl sie fürchtete, was sie dort sehen würde. Lucias Angreiferin machte einen Sprung zurück und kreuzte ihre Schwerter wieder. Beide Klingen waren voll Blut. Lucia ging zu Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick suchte ihren Mann. „Rhys… Rhys…“, keuchte sie. Jedes Wort wurde von einem Schwall Blut begleitet, der ihr aus dem Mund drang und Crystal begriff dumpf, dass dies der Tod war. Sie hörte den verzweifelten Schrei ihres Bruders, sah wie er sich zu seiner Frau beugte, die Gefahr, die ihm immer noch drohte, ignorierend.
Lucias Mörderin zögerte nicht, Rhys’ Schwäche auszunutzen und war schon vorgesprungen. Einen Augenblick später steckten beide Schwerter in seinem Rücken.
Crystal fühlte ein Brechen in sich, wie von Glas, als sie begriff, dass die Frau ihren Bruder ermordet hatte. In fassungslosem Schmerz schrie Crystal ihr Leid in die Welt hinaus. Sie schrie die Liebe zu ihrem Bruder, zu ihrer Freundin – das Entsetzen über das, was sie mit ansehen musste und nicht verhindern konnte. Sie vergaß völlig, dass zwei Angreiferinnen noch
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