Die Lichtfaenger
Fast sechzig lange Jahre sollen wir für den verlorenen Krieg zahlen. Wir werden das Ende nicht mehr erleben und selbst unsere Kinder werden schon alte Leute sein, wenn damit endlich Schluss ist. Wie soll das weitergehen? Nein, dann schon lieber den Hitler! Wenn sie den machen ließen, der würde schon aufräumen, sei er, wie er wolle. Der würde die Zahlungen von heute auf morgen einstellen und mit dem Geld hier wieder Arbeit schaffen!«
»Und die Juden?«
»Ach was!«, lachte die Frau. »Das meint er doch nicht ernst.
Unser Nachbar ist einer. Wenn er nicht Weintraub hieße, käme keiner auf den Gedanken. Der war im Krieg für Deutschland an der Front, ist zweimal verwundet worden und jetzt auch arbeitslos. Wenn der Hitler von den Juden redet, dann meint er nicht solche Leute wie den Weintraub, sondern das Weltjudentum! Die Großen eben!«
Rheinbach war anders, als es sich Lois Oliphant Gibbons vorgestellt hatte. Es war ein kleines Städtchen mit beinahe dörflichem Charakter und pittoresken Fachwerkhäusern. An eine Stadt erinnerten eigentlich nur die alten
Befestigungsanlagen mit der teilweise erhaltenen Stadtmauer und dem Wasemer-, dem Kallen- und dem Hexenturm. Das Sättigungsgefühl vom Mittagessen hatte nicht lange angehalten, war verflogen. An einem Stand kaufte sie sich eine Bratwurst mit viel Mostrich, schlenderte dann durch die Gassen, blieb vor einem Geschäft stehen, das auch Souvenirs führte.
Nach einigem Überlegen gab sie sich einen Ruck, betrat den Laden und kaufte den kitschigen blauen Porzellanteller mit einem Ortsbild und dem Gruß »Willkommen in Rheinbach!«.
Na ja, dachte sie, während ihn die Verkäuferin einpackte, vor dreihundert Jahren hätte ich mir das wahrscheinlich gut überlegt!
»Wie weit ist es zum Friedhof von Sankt Martin?«
»Nicht weit. Etwa fünf bis acht Minuten!«
Sie war schon versucht, kehrtzumachen und die Blumen einfach auf irgendein Grab zu legen, als sie ihn doch noch fand. Unter Gestrüpp, halb überwuchert stand ein verwitterter, rotbrauner Gedenkstein in Kreuzform, den Löhers Sohn Bartholomäus hatte setzen lassen. Die Schrift war kaum noch zu entziffern. Aber kein Zweifel – er war es.
GERHARD LEUR HERMAN LEUR BARTOLOM. LEUR
Darüber die Todesdaten, das von Hermann Löher mit dem 12.
November 1678, und darunter:
Ein wenig ratlos versuchte Lois Oliphant dahinter zu kommen, was das bedeuten sollte.
Gott… segne… Nein, das war es nicht.
Eine ältere Frau schlurfte mit einer Gießkanne über den Friedhof, hielt ungefähr in ihre Richtung.
»Entschuldigen Sie«, sprach Gibbons sie an, »können Sie mir helfen?«
Zu zweit standen sie nun vor dem Stein.
»›GSDSG‹, was könnte das heißen?«
»Gott sei den Seelen gnädig«, kam die Antwort ohne Zögern.
Der Mann am anderen Ende der Telefonleitung war ein wenig ungehalten.
»Es dauert halt, über dreihundert Doppelseiten auf Microfilm zu bringen! Da hilft es auch nicht, wenn Sie andauernd anrufen, deswegen geht es nicht schneller. Morgen Nachmittag sind wir fertig, dann können Sie das Buch nach Münstereifel zurückbringen!«
Die Gereiztheit des Fotografen ließ Lois Oliphant kalt. Sie stellte sich stattdessen das Gesicht des Professors vor, wenn sie mit einer Ablichtung der »Wehmütigen Klage« nach Cornell zurückkäme.
Zufrieden schlenderte sie das kurze Stück hinüber zum Hexenturm. Dort setzte sie sich auf die Treppenstufen des Burgtors, stützte den Kopf in die Hände, sah nachdenklich hinauf zu dem runden Turm mit seinem spitzen Dach und suchte nach Gemeinsamkeiten.
Christenverfolgung, Ketzerverfolgung, Hexenverfolgung und Judenverfolgung!
Also, Christenverfolgung? Nero brauchte einen Sündenbock
– irgendjemand musste ja Rom angezündet haben, wenn er seinen Kopf retten wollte. Und die Christen waren eine Minderheit. Eine gefährliche Minderheit, die sogar den Sohn ihres Gottes verspeiste und sein Blut trank!
Ketzerverfolgung? Die Katharer spalteten Staat und Kirche, sahen die Welt als Werk Satans und küssten schwarzen Katzen den Hintern! Und sie waren ebenfalls eine Minderheit. Eine gefährliche Minderheit!
Hexen? Wahrscheinlich eine der gefährlichsten Minderheiten überhaupt! Im Geheimen taten sie sich zusammen und waren für alles Übel zuständig: schlechtes Wetter, Missernten, Pestilenzen, Krankheiten, Fehlgeburten, Kindstode, Impotenz, Kriege und Haarausfall.
Die Juden? Na ja, die waren eigentlich schon immer eine Minderheit und mussten von alters her als alles
Weitere Kostenlose Bücher